Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
ihre Schritte hinab nach Almuñécar.
Noch ein letztes Mal würde sie den Weg vom Hotel zu Fuß nach Hause gehen, ein letztes Mal den gleichen Weg wie ihre Schwester nehmen, als diese damals verschwand, und sie würde dabei jeden Schritt in vollem Bewusstsein setzen, so wie bei einem Trauermarsch. Danach würde es wirklich vorbei sein.
Bereits im Dämmerlicht blickte sie auf Almuñécar hinunter. Könnte sie in diesem Ort weiterleben? Sie war hier geboren und konnte sich keinen besseren Wohnort vorstellen, aber hier war zu viel vorgefallen, hier hatte sich zu viel Böses ereignet. Immer wieder würden die Einwohner sie an alles erinnern und hinter ihrem Rücken tuscheln: die arme Joana. Ihre kleine Schwester verschwand spurlos und ihre Mutter wurde ermordet. Ihre Trauer würde hier viel langsamer verblassen als anderswo, wenn überhaupt! Täglich würde ihr Blick das Hotel streifen, das sich wie ein Mahnmal auf dem Hügel erhob. Almuñécars enge Gassen, die Gerüche in der Markthalle, wo sie mit ihrer Mutter regelmäßig einkaufen war, der Lärm in den Kneipen der Stadt, in die sie ihr Vater ausgeführt hatte, der Geruch nach Fisch im Chiringuito und die Strände, an denen sie sich mit Carmen gesonnt hatte – all das würde sie täglich an ihre Familie erinnern. Joana fühlte, dass sie den Ort verlassen musste.
Aber wo sollte sie hingehen? Zum ersten Mal in ihrem Leben dachte sie ernsthaft über diese Frage nach. Gerade als sie die Straße überquerte, die links nach Almuñécar führte und rechts in die Wohnsiedlung Los Pinos abzweigte, wurde sie von einem Auto aus ihren Gedanken gerissen. Scheinwerfer blendeten sie, der Wagen rauschte an ihr vorbei, bremste aber keine zwanzig Meter die Straße hinunter ab. Dann legte der Fahrer den Rückwärtsgang ein und der Wagen kam in schlingernder Fahrweise und mit einem Motorgeräusch, das sie an einen Bohrer beim Zahnarzt erinnerte, wieder die Straße hinaufgefahren. Keine zwei Meter vor ihr setzte der Wagen auf den Gehsteig und versperrte ihr den Weg. Sie atmete durch, sie kannte das Auto.
Was macht er denn noch hier?, fragte sie sich, als Kilian heraussprang.
»Ich hab im Hotel nach dir gesucht, dort oben ist ja die Hölle los und jemand hat mir gesagt, dass Antonio erschlagen wurde, stimmt das?«
Joana nickte.
»Das ist ja schrecklich! Weiß man schon, wie?«
Joana schüttelte den Kopf. »Nein, Kilian, aber ich will jetzt auch nicht mehr darüber sprechen. Der Hotelbetrieb wird vorübergehend eingestellt und ich werde das ›Palace‹ wohl nie wieder betreten. Ich such mir einen anderen Job! Aber wieso bist du hier, ich dachte du sitzt schon im Flugzeug?«
»In Málaga streikt das Bodenpersonal und mein Flug ist auf morgen früh verschoben worden und da wollte ich …« Kilian umarmte Joana unbeholfen. »Ich wollte dich noch einmal sehen und mich ordentlich von dir verabschieden. Nicht so überstürzt wie gestern.«
Joana starrte über seine Schulter hinweg auf die Stadt: die Kirche, die malerische Altstadt mit ihren verschachtelten weißen Häusern, die beleuchtete Burg, den Felsen mit dem Kreuz auf seinem höchsten Punkt und die ersten Fischer, die aufs Meer fuhren, um mit dem Fang ihre Familien zu ernähren. Noch einmal suchte sie die Stationen ihres Lebens ab: das Haus der Großeltern, in dem sie aufgewachsen war, die Wohnung ihrer Eltern, in die sie später umzogen, den Kindergarten, die Grundschule und die mittlere Schule. Nur zum Hotel sah sie nicht mehr hoch. In der Ferne blinkte der Leuchtturm der Punta de la Mona über dem Hafen der Marina del Este wie das Zeichen zum Aufbruch.
»Das wird nicht nötig sein!«
Kilian löste sich von ihr. »Wie bitte?«
Joana hob ihren Kopf, zog an Kilians Nacken und küsste ihn.
»Du brauchst dich nicht zu verabschieden, ich komme mit dir!«, flüsterte sie ihm ins Ohr, ehe sie ihn wieder küsste. Aber Kilian wich zurück.
»Joana, das geht nicht … ich kann das nicht … ich …«
Kilian brachte kein Wort mehr hervor und Joana starrte ihn verdattert an.
»Ich werde wieder in das Priesterseminar eintreten, ich muss das tun, ich weiß, es hört sich bescheuert an, aber …«
Joana lachte auf. »Und da sagt noch einer, ihr Deutschen hättet keinen Humor!«
Kilian starrte zu Boden und erwiderte nichts.
»Nein … oder? Sag, dass das nicht wahr ist? Erzähl mir nach allem, was geschehen ist, nicht so einen Schwachsinn! Sag, dass in München eine andere auf dich wartet oder dass ich dir nichts bedeute, aber lüg
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