Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
Kontaktdaten bei der Guardia Civil hinterlegt hatten, durften das Hotel verlassen und wurden von Carlos bedient. Der Direktor legte eben Sakko und Krawatte ab; unter seinen Achseln fanden sich dunkle Flecken.
»Wo bleibt ihr denn, verdammt noch mal? Seht ihr nicht, was hier los ist?«, schrie er, als Joana und Maite endlich wieder auftauchten. Die Gäste starrten ihn an, aber die Contenance zu wahren, war das Letzte, worauf Carlos jetzt noch achtete. Seine beiden Empfangsdamen hingegen ignorierten ihn und schlenderten an der Rezeption vorbei. Nur Maite konnte sich nicht verkneifen, ihrem Chef eine Kusshand zuzuwerfen. Carlos schlug mit der Faust auf die Theke, dass der vorderste Gast in der Schlange vor Schreck über seinen Koffer stolperte. »Ihr könnt doch jetzt nicht einfach …!«, brüllte er, aber Maite und Joana waren schon durch die Drehtür und konnten den Rest seiner Tirade nicht mehr hören.
Als Joana und Maite sich auf dem Parkplatz durch das Spalier der Reisebusse, Einsatzfahrzeuge und Übertragungswagen gekämpft hatten, umarmten sie sich. Sie hatten fünf Jahre in diesem Hotel zusammengearbeitet und jetzt war es vorbei. Keine der beiden würde dieses Gebäude je wieder betreten. Die Freundinnen wiegten sich in den Armen und ihre Tränen vermischten sich an den Wangen. Obwohl sie sich noch viel zu sagen hatten, spürten sie, dass Worte jetzt fehl am Platz waren. Irgendwann würden sie sich wieder treffen, aber vorerst wollten sie Abstand gewinnen.
Maite stieg ins Auto, um ihre Familie in Jaén zu besuchen. Sie öffnete die Seitenscheibe. Ihre Blicke trafen sich ein letztes Mal für lange Zeit.
»Mach’s gut!«, sagte Maite und fuhr an.
»Du auch!«, antwortete Joana eine Weile später nur mehr für sich.
Lange blieb Joana auf einer Bank an der Einfahrt zum Parkplatz sitzen und starrte gedankenverloren auf Almuñécar hinab, ohne die Kleinstadt wirklich wahrzunehmen. Ein Reisebus schleppte sich die Straße hoch und ragte in einer Kurve in die andere Straßenseite hinein, sodass ein Transporter der Guardia Civil nicht passieren konnte. Ein Helikopter landete auf der Terrasse neben dem Swimmingpool. Drei Männer in Anzügen entstiegen ihm geduckt und wurden von dem salutierendem Teniente Lozano empfangen. Maites Liebhaber. Joana schmunzelte. Ihre verrückte Freundin würde ihr fehlen! Die Hektik hier oben übertrug sich jedoch nicht auf Joana, die eine tiefe innere Ruhe verspürte, wie schon seit zwei Jahren nicht mehr. Der Albtraum war vorbei. Zumindest für sie, aber wohl noch lange nicht für die Ermittler. Joana hatte keine Ahnung von Polizeiarbeit, konnte sich aber vorstellen, dass die Sonderkommission der Guardia Civil unter dem Druck der Öffentlichkeit um weitere Spezialisten aus Granada und Madrid aufgestockt wurde. In den nächsten Wochen und Monaten würden sie wohl nochmals alle Akten studieren und abermals Dutzende von Personen verhören. Die Todesfälle von Almuñécar würden die nächsten Tage die Schlagzeilen der lokalen und nationalen Presse bestimmen. Ein ganzes Land würde ihren Spekulationen folgen und Joana stellte sich vor, wie sie sich mit immer schauderhafteren Theorien zum Tathergang gegenseitig übertrumpften. Unter den Augen einer Nation würden die Behörden Ermittlungen in jede erdenkliche Richtung anstellen, aber Joana wusste schon jetzt, dass diese Anstrengungen ohne Erfolg bleiben würden. Das »Rätsel von Almuñécar«, wie man es dann wohl nannte, würde für immer ungeklärt bleiben und wohl als einer der mysteriösesten Fälle in die Kriminalgeschichte des Landes eingehen. Niemand, nicht einmal Paco, würde auch nur ansatzweise erahnen, warum sich dies alles in den vergangenen Wochen so zugetragen hatte. Es sei denn …
Joana zog den Brief aus ihrer Handtasche. Sie brauchte ihn nicht mehr zu lesen, sie kannte ihn auswendig. Dann kramte sie nach der Aufnahmekassette, die nicht größer als eine Streichholzschachtel war. Sie hatte das Band einmal abgehört und das war genug. Im Gegensatz zum Brief wollte sie diese Kassette nicht behalten. Einen Moment lang spielte sie mit dem Gedanken, zurück ins Hotel zu gehen und Paco das Beweismaterial in die Hand zu drücken:
Lies den Brief und hör dir diese Kassette an!
Aber sie wusste, dass sie das nicht tun durfte. Ihre Mutter hätte das nicht gewollt.
Joana erhob sich, ließ die Kassette zu Boden fallen und zermahlte sie mit ihren Absätzen – so lange, bis nur noch Plastiksplitter übrig blieben. Dann lenkte sie
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