Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
keineswegs aufgeklärt war: Elena und Antonio.
Die Frage war, wer für den Tod der beiden anderen verantwortlich war, und Kilians Schlussfolgerung ließ ihn erschaudern. Wieder nahm er die Flasche zur Hand und trank einen Schluck, der ihn würgen ließ. Er versuchte nachzudenken, aber der Schock über diesen Brief blockierte seine Gedanken. Joanas Mutter vergiftete zuerst aus Versehen seinen Bruder und danach sich selbst. Ein paar Tage später folgte Elenas Tod und wieder einige Tage darauf der von Antonio. Elena könnte auf die Kappe von Antonio gehen, da sie die einzige Zeugin im Unfallwagen war und er von ihrem Tod profitierte.
Aber es könnte auch anders gewesen sein – Antonio wurde mit einem Schinkenknochen erschlagen! Genauso wie es Inmaculadas Mann zu Lebzeiten angedroht hatte. Das wiederum konnte nur bedeuten, dass Joana, die von diesem Brief wusste, etwas mit Antonios und Elenas Tod zu tun hatte! Kilian wollte es nicht glauben, aber alles sprach dafür, dass er seit fast zwei Jahren glücklich mit einer Mörderin zusammenlebte.
Joana sah auf die Uhr. Sie war mit ihren Besorgungen durch und es blieb ihr noch eine Stunde bis zum Arbeitsbeginn im Restaurant. Unschlüssig, was sie mit dieser Zeit anfangen sollte, setzte sie sich in eine überdachte Bushaltestelle und griff sich an den Babybauch.
Der vorweihnachtliche Verkehr schob sich durch die Innenstadt und der Geruch gerösteter Kastanien, das Aroma des Winters, drang in ihre Nase. Der Winter war zwar lang und kalt in München – kein Vergleich zu Andalusien –, aber trotzdem war es hier schön, zum ersten Mal verspürte sie Geborgenheit. Sie war glücklich mit Kilian und freute sich auf ihr gemeinsames Baby.
Nach Spanien hatte sie kein Heimweh. Vielleicht später einmal, wenn ihr Sohn Xaver laufen konnte und ihre eigenen seelischen Wunden so gut vernarbt wären, dass sie nicht wieder aufplatzen konnten, würden sie dort Urlaub machen.
Joana musste an das Telefonat mit Kilian denken, bei dem er etwas seltsam geklungen hatte. Erneut versuchte sie, ihn zu erreichen, aber sein Handy war offenbar ausgeschaltet. Langsam wurde sie unruhig. War er etwa beim Malen von der Leiter gefallen? War seine Handybatterie leer? Oder … Dios mío! Der Abstellraum!
Joana blickte auf die Uhr. Es blieb ihr kaum mehr Zeit im dichten Verkehr nach Pasing hinaus und wieder rechtzeitig zurück in die Innenstadt zur Arbeit zu kommen, aber mit dieser Ungewissheit konnte sie unmöglich ihren Job machen. Seit Almuñécar hasste sie Ungewissheiten. Joana lief durch den Schneematsch zum Straßenrand und winkte ein Taxi heran.
Vor der Eingangstür hielt sie inne. Von drinnen war kein Laut zu hören. Leise schloss sie die Tür auf. War Kilian nicht zu Hause? Sie hielt einen Moment im Wohnzimmer inne, zog die Stiefel aus und schlich in Strümpfen auf das künftige Kinderzimmer zu. Malutensilien lagen verstreut am Boden, aber ansonsten hatte sich im Abstellraum nichts verändert, schon gar nicht die Wandfarbe. Sie wandte sich dem Bürozimmer zu. Die Tür war angelehnt. Vorsichtig schob Joana sie auf. Kilian saß mit dem Rücken zu ihr auf dem Bürostuhl. Seine Beine lagen auf dem Schreibtisch, direkt neben ein paar handgeschriebenen Seiten und dem braunen Kuvert … Er wusste es.
Joana trat einen Schritt von der Tür zurück und überlegte, ob sie einfach wieder hinausgehen sollte. Die Wohnung verlassen, die Stadt, das Land, um irgendwo von vorne zu beginnen. An einem Ort, wo keiner ihre Geschichte kannte. Nur sie und ihr Baby. Aber was dann? Würde ihr Sohn irgendwann einmal nicht wissen wollen, wer sein Vater war? Oder warum er keine Oma hatte? Würde ihr Sohn sie nicht durch seine Fragen ständig an diese Tragödie erinnern? Sie müsste ihn immerfort anlügen, denn die Wahrheit könnte sie ihm niemals erzählen. Wenn sie jetzt ginge, wäre der Rest ihres Lebens eine einzige, niemals endende Lüge. Sie musste es hinter sich bringen. Endgültig. Und jetzt bot sich die Gelegenheit dazu. Von sich aus hätte sie, trotz allen Vertrauens zu Kilian, niemals den Mut gefunden, es zu erzählen. Ihm zu beichten, dass ihre Mutter seinen Bruder tötete, wenn auch aus Versehen. Oder ihn wissen zu lassen, dass auch sie eine Mörderin war, denn egal aus welchem Antrieb sie auch gehandelt hatte und wie die Umstände damals gewesen waren: Sie war eine Mörderin und Kilian wusste es jetzt.
Aber wie würde es von nun an weitergehen? Würde er sie und ihr Baby verstoßen? Sie würde es gleich
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