Pata Negra: Kriminalroman (German Edition)
ein Kind bekommen. Falls es ein Mädchen werden sollte, würde sie es Carmen taufen. Vor zwei Jahren noch war sie mit José glücklich gewesen, ihrem damaligen Freund. Es gab sogar schon romantische Zukunftspläne über Hochzeit, Eigenheim und Kinder, aber als ihre Schwester verschwand, hielt José noch ein halbes Jahr durch, dann war es vorbei. Er zog fort und sie konnte es ihm nicht verübeln.
Seltsam – sie konnte sich nicht mehr daran erinnern, was sie damals für José empfunden hatte. Die Trauer um Carmen hatte alle anderen Gefühle überlagert, hatte Glückseligkeit, Fröhlichkeit und Zufriedenheit zugedeckt wie der Ascheregen eines Vulkanausbruchs eine Blumenwiese.
Joana erhob sich und setzte ihren Weg fort. Auf einen Stichtag hin frei im Kopf zu werden, war das überhaupt möglich? Konnte man negative Gedanken einfach verdrängen und durch positive ersetzen? Würde nicht wieder alles hochkommen? Und zwar spätestens beim nächsten Hinweis von irgendjemandem, der ein Mädchen sah, welches Carmen ziemlich ähnelte …?
Fast hundertprozentig sicher sei Mari Lucia gewesen, als das Mädchen in Madrid im Menschenstrom um die Plaza de España untertauchte. Hundertprozentig! Carmen Ramos Ortiz! Joana schüttelte den Kopf.
Was, wenn es wieder geschah?
Würde dann nicht wieder Hoffnung in ihr aufkeimen und sich abermals diese rastlose Anspannung in ihr breitmachen, die sie die Fingernägel bis auf das Fleisch abkauen ließ? Natürlich würde es so sein …
Aber sie musste zumindest versuchen, einen anderen Weg zu finden, um sich nicht immer wieder die gleichen Fragen zu stellen: Lebte Carmen noch? Wo war sie? Warum war sie fortgerannt?
Hing es doch mit ihrem Vater zusammen, der vor vier Jahren an einem Schlaganfall gestorben war? Die ganze Familie war in Trauer und einige Bekannte mutmaßten später, dies sei der Auslöser für Carmens Verschwinden gewesen.
Joana glaubte das nicht. Aber andererseits war Carmen labiler als sie und um zwölf Jahre jünger und da könnte … nein! Carmen würde nicht wieder auftauchen. Sie musste sich langsam mit der Ungewissheit arrangieren, anstatt sich weiterhin von ihr zerstören zu lassen.
Sie selbst hatte die ersten zwölf Jahre ihres Lebens als Einzelkind verbracht. Sie war sich nie so richtig klar darüber geworden, warum ihre Eltern so lange brauchten, um ein Schwesterchen zu zeugen. Sie hatte ihre Mutter danach gefragt, aber immer nur ausweichende Antworten erhalten. Joana nahm an, dass es nach ihrer Zeugung nicht mehr so recht klappte mit der Virilität ihres Vaters, bis dann lange Jahre später doch noch die Überraschung kam. Sie war eine gute große Schwester für Carmen gewesen. Nach der Schule bis spät abends, wenn ihre Mutter von der Arbeit kam, übernahm sie die Mutterrolle. Und in den Sommerferien, wenn ihre Mutter während der Hochsaison den ganzen Tag im Restaurant schuftete, kümmerte sie sich allein um Carmen, die noch in den Windeln lag. Carmen war viel mehr als nur ihre Schwester gewesen. Joana hatte sie geliebt wie eine Mutter ihr eigenes Kind.
Sie hatte das Ende des Strandes bei Cotobro erreicht und kehrte wieder um. Der Poniente nahm weiter zu und mit dem Wind im Rücken fiel ihr das Gehen leichter, nur die Haare wurden ihr von hinten ins Gesicht geblasen. Joana kramte in ihrer Handtasche nach einem Haarband und holte auch ihr Handy heraus. Drei Anrufe in Abwesenheit. Alle von Maite.
Sie bändigte ihre Locken und rief Maite zurück, aber es war besetzt. Joana setzte ihren Weg fort und keine dreißig Meter später vibrierte das Handy.
»Ich wollte dich vorhin schon anrufen …«, sagte Joana, aber Maite fiel ihr ins Wort: »Joana, der hübsche Deutsche, den du gestern Abend eingecheckt hast … Du weißt, wen ich meine?«
Joana bekam nicht die Gelegenheit, darüber nachzudenken. »Joana, er ist tot!«
4
V or dem Hoteleingang parkten ein Dutzend grünweißer Nissan Patrols der Guardia Civil. Immer wenn Joana mit dem Tod konfrontiert wurde, sei es in den Nachrichten, beim Hoteltratsch oder in Form eines weißen Tuchs neben einer Hauptstraße, musste sie an die Angehörigen denken. Wie schlimm war es, von einen auf den anderen Moment zu erfahren, dass es einen geliebten Menschen nicht mehr gab?
Auch jetzt dachte sie an die Angehörigen dieses jungen Mannes in Deutschland. Wer würde ihnen die Nachricht überbringen? Das Konsulat? Und wer wird mir die Nachricht vom Tod meiner Schwester überbringen?, dachte sie bitter und ging an zwei Beamten
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