Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
mich davon abhalten, weder Brennnesseln noch Dornen, ich schlug mich mit nackten Beinen ohne Netz durch alles durch, wollte sie nie einfangen, hoffte nur, ihr nahe zu sein. So war es auch noch, als wir heirateten. Zerkratzt und zerschunden musste ich Abstand halten.« Sein Griff lockerte sich, allerdings nur ein bisschen. »Aber als ich am wenigsten damit rechnete – viele Jahre später – kam sie zu mir … Ich wagte kaum zu atmen; ich konnte nur staunend ihre gebrochenen Flügel anschauen und mich wundern, dass sie noch fliegen konnte und dass sie sich auf mir niedergelassen hatte.« Seine blauen Augen schweiften über die Etiketten. »Nichts, was Riley dir gesagt hat, könnte sich zwischen mich und meine Liebe zu deiner Mutter stellen.«
Sanft drehte Charles Nick zu sich um und legte die Hände auf die Schultern seines Sohnes. »Ich weiß, die Mutter, die du gekannt hast, ist verschwunden, und das schmerzt mich für dich.« Er war gequält, aber auf jene neu entdeckte Art auch stark. »Aber wenn du abwartest, werden die Etiketten – diese Aufkleber, die an allem kleben, was wir getan haben, aber nie vollständig erfassen können, wer wir sind – alle verblassen und ihren Platz finden. Und dann wird jemand zum Vorschein kommen, der unendlich viel wunderbarer ist.«
Charles ging an die Hausbar und schenkte Scotch in zwei Gläser. »Trinkst du darauf mit mir?«, fragte er.
20
»WIR WOHNTEN STÄNDIG mit etwa zehn Leuten in dem besetzten Haus«, erzählte George zerstreut.
Er nahm ein Puzzleteil und hielt es schräg unter eine kleine Lampe. Die Weltkarte war fast fertig.
»Auf der Straße spricht sich herum, wo man eine Bleibe findet«, sagte George, »und so lernte ich Elizabeth kennen. Als ich sie zum ersten Mal sah, saß sie zusammengekauert im Chefbüro am Feuer. Sie hatte ein rotes Köfferchen mit goldenem Schloss auf dem Schoß. Wir wurden Freunde, auch wenn ich nie ihre Geschichte erfuhr und ihr nie meine erzählte. Riley war nett … half ihr, sich einzuleben … er passte auf sie auf. Damals schien er nicht anders zu sein als die anderen. Aber dann kam es zu einer Veränderung.« George schlang die Finger auf dem Tisch umeinander. »Ich weiß nicht, ob es von Riley ausging oder ob er sich einfach von dem Abwärtssog mitreißen ließ, aber von Kälte und Hunger wandten die Gespräche sich dem schnellen Geld zu. Jedenfalls wurde Riley zum Anführer … er war fieberhaft … und irgendwie ehrgeizig … da bin ich gegangen. Aus Gründen, die ich nie begreifen werde, weigerte Elizabeth sich mitzukommen.«
Anselm saß George reglos gegenüber und hatte die verschränkten Arme auf den Tisch gestützt. Im Zimmer war es dunkel bis auf den Lichtkegel zwischen ihnen.
»Nachdem Schwester Dorothy mir ein Bett für die Nacht besorgt hatte, ging ich zurück nach Paddington«, erzählte George weiter. »Ich werde nie vergessen, was ich da sah. Da stand sie, unter einer Straßenlaterne, ganz still. Ein Stück weiter links im Schatten lag das besetzte Haus. Rechts hinter einer Mauer mit Glasscherben auf der Krone war die Bahnlinie. Eine Fußgängerbrücke vom Bahnhof zeichnete sich gegen den Himmel ab. Die Straße war leer. Und dann sah ich, dass sich auf der Brücke etwas bewegte … zwei Leute … einer größer als der andere. Sie blieben in der Mitte stehen, und ich wusste, dass es Riley war, der zu Schwester Dorothy hinüberschaute. Schon damals war er hager, gebeugt und seltsam kantig. Er führte jemanden an der Hand. Sie kamen die Treppe herunter auf die Straße. Dann blieb er wieder stehen, mit dem Gesicht zu Schwester Dorothy. Langsam ging er seitlich in das besetzte Haus und zog einen weiteren Ausreißer am Arm hinter sich her.«
George wandte sich wieder seinem Puzzle zu und drückte hoch stehende Ecken herunter. Er war nicht bei der Sache, denn ein paar Puzzleteile verrutschten, und er ließ sie einfach so liegen. Geistesabwesend sagte er: »Es war … furchtbar … wissen Sie, Riley ging in den Bahnhof, weil Schwester Dorothy auf die Straße gekommen war. Es war, als ob er ihren Platz auf dem Bahnsteig eingenommen hätte und dann in das besetzte Haus zurückgekommen wäre, um ihr zu zeigen, welche Folgen ihre Entscheidung hatte.« George schaute in Anselms bekümmerte Miene und sagte: »An dem Abend habe ich mir geschworen, wenn ich je die Chance bekommen sollte, Riley das Handwerk zu legen, dann würde ich sie nutzen.«
Im Zimmer wurde es dunkler, und das Lampenlicht schien greller. Die Wände waren
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