Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
im Büro, weil Camberwell praktisch als Elizabeth’ Heimatadresse galt.
»Seit sie nach Durham gegangen ist, habe ich sie nicht mehr gesehen«, erzählte Schwester Dorothy, »aber ich habe eine Postkarte bekommen, als sie beschlossen hat, Prozessanwältin zu werden.« Mit der Zigarette zwischen den Zähnen rollte sie ihren Rollstuhl durch das Zimmer an eine Anrichte. Sie kam mit einem Brevier auf dem Schoß zurück, blinzelte durch den Zigarettenrauch und blätterte das Buch durch, bis sie ihr Lesezeichen fand.
Die Karte zeigte Gray’s Inn Chapel an einem Sommertag. Unter ihrem Turm hatte Anselm auf Nicholas gewartet. Auf der Rückseite stand in knappen Worten:
Dienstag in einer Woche werde ich als Anwältin zugelassen. Ihnen allein ist zu verdanken, dass ich glücklich bin. Das Mädchen, das wir mit Schleifen gefunden haben, wird seine Tage mit der Jagd nach Übeltätern verbringen. In Liebe Elizabeth
»Am selben Tag rief ich Roddy an«, sagte Schwester Dorothy und nahm die Karte wieder an sich. »Ich hoffte, dass er sich noch an meine Haube erinnerte.«
»Und hat er sich erinnert?«
»O ja.«
Beide lächelten still in sich hinein beim Gedanken an Kronanwalt Roderick Kemble, der sich bei Elizabeth’ eingeschmeichelt und ihr geholfen hatte, ihre ehrgeizigen Karriereziele zu erreichen.
Draußen war es mittlerweile dunkel geworden. Der Verkehr auf der Coldharbour Lane rauschte in unablässigem Auf und Ab wie das Meer. Als George Riley belastet hatte, hatte Riley sich an Elizabeth gewandt, überlegte Anselm. Die drei waren sich im Gerichtssaal begegnet – eine erschreckende Symmetrie. Und ich stand ahnungslos zwischen ihnen.
Schwester Dorothy drückte ihre Zigarette aus und sagte: »Und jetzt erzähle ich Ihnen von dem Jungen, der mich an diese Straßenlaterne geschickt hat.« (Anselm hatte sich schon Gedanken über ihn gemacht. Ein Hotelier hatte ihm ein Bett für die Nacht gegeben.) »Er hieß nach seinem Großvater, der zu Hause eine Respektsperson war.«
Müde erzählte Schwester Dorothy: »Der Junge fand heraus, dass sein Opa ein Nachbarskind belästigt hatte, um es mit der damaligen Umschreibung auszudrücken. Dieses Wort benutzte er auch, als er es seiner Mutter erzählte, die ihm nicht glaubte … und als er es seinem Vater erzählte, der es nicht glauben konnte … also ging der Junge zur Polizei. Das Opfer stritt alles ab, und der Junge wurde von allen geschnitten. Eines Morgens fuhr der Opa mit dem Zug nach Scarborough, legte seine Orden an den Strand und ging ins Wasser. Deshalb lief der Junge von zu Hause weg«, murmelte die alte Nonne, »er musste weg.« Sie war völlig zerknirscht und wollte nicht, dass Anselm erkannte, wo er hineingestolpert war (und wo er, ohne dass sie davon wusste, den Gral eines jeden Anwalts gefunden hatte: einen Treffer gegen jede Wahrscheinlichkeit). »Er wollte niemandem sagen, wer er war«, sagte sie leise. »Es ist genau die gleiche Geschichte wie bei Elizabeth. Fang ganz von vorn an, sagte ich. Benutze einfach deinen zweiten Vornamen. Ich habe mich oft gefragt, was wohl aus dem jungen George geworden ist.«
19
CHARLES GLENDINNINGS INTERESSE an Schmetterlingen ging nicht so weit, dass er sie für seine Schaukästen gefangen hätte. Sie waren für ihn außer Reichweite. Da sie aber kaum einmal still hielten, ergab sich die Gelegenheit, sie ausgiebig zu beobachten, nur selten, immer unvorhergesehen und war daher jedes Mal etwas ganz Besonderes. Vielleicht hatte Charles also aus Respekt einige alte Sammlungen gekauft: schmale, längliche Kästen mit grünem Boi und Glasdeckel. Darin waren die Schmetterlinge ordentlich aufgereiht und mit Namen auf braunen Kupferplatten versehen. Diese Vitrinen säumten die Wände in Charles’ Arbeitszimmer, das sie immer das Schmetterlingszimmer nannten.
Nachdem Nick den Wagen in der Seitenstraße geparkt hatte, ging er auf der Suche nach seinem Vater durch das dunkle, stille Haus. Ihm war beklommen um die Brust, als ob seine Lungen zu klein für diese Aufgabe wären. Mit zittrigen Fingern öffnete er die Tür des Arbeitszimmers. Charles beugte sich mit auf dem Rücken verschränkten Händen über einen Schaukasten; das künstliche Licht der Neonleuchten strahlte sein Gesicht an.
Nick ließ die Tür ins Schloss fallen. Er wünschte sich, er wäre wieder ein Kind, könnte auf einen Schoß klettern und sich sagen lassen, es sei nur ein Traum gewesen; könnte sich zurückholen lassen in eine Welt ohne Dämonen. Der
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