Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
verschwunden. Es gab nur noch diesen Tisch, das Puzzle und einen alten Mann mit behutsamen Fingern. Anselm lehnte sich fast bis in den Schatten zurück und hörte zu, wie es dem Jungen ergangen war, der ein feierliches Versprechen gegeben hatte.
George hatte einen Job im Bonnington bekommen und dort Emily kennen gelernt. Sie sparten Pennys in einer großen Flasche und »verzichteten«, bis sie sich zwei möblierte Zimmer leisten konnten. Emily besuchte die Abendschule, lernte Maschineschreiben und bekam eine Stelle bei der staatlichen Grubengesellschaft. George konnte die stille Straße an der Bahnlinie in Paddington nicht vergessen. Als sich ihm die Gelegenheit bot, nahm er eine Arbeit im Bridges-Nachtasyl an, zuerst als Hilfskraft, schließlich als Leiter. Für ihr Eheleben war es verheerend, weil George vier Nächte in der Woche nicht zu Hause war und ständig Bereitschaft hatte: Offenbar kannte niemand das System so gut wie George: niemand konnte eine Krise so geschickt meistern. Aber Emily verstand, dass es für George keine »Arbeit« war. Das Bridges war für ihn eine Verbindung zu seiner Herkunft. Daher passte es durchaus, fand George, dass er den Namen Riley ausgerechnet aus dem Mund von Kindern wieder hörte: von Anji, Lisa und Beverly. »Aber ich habe sie abrutschen lassen«, sagte er.
Anselm starrte auf die Illustrationen der Weltkarte. Monströse Fantasiewesen bewohnten die äußersten Randgebiete; strahlende Apostel standen auf den Ländern, denen sie die Frohe Botschaft gebracht hatten. Es war schwer vorstellbar, wie eine solche Karte je Navigationszwecken gedient haben sollte. Er musterte eingehend die Roben: Ihm war klar, dass die Erzählung unweigerlich auf sein Kreuzverhör zustrebte.
»Nachdem ich aus Paddington weg war, habe ich Elizabeth nie mehr gesehen«, sagte George. »Bis zu dem Tag im Old Bailey. Man hatte uns gesagt, wir sollten unsere Antworten an die Geschworenen richten, deshalb hatte ich sie nicht bemerkt … außerdem war es über zwanzig Jahre her, ein flüchtiger Blick sagte mir also gar nichts. Erst als Sie anfingen, Ihre Fragen zu stellen, wurde aus einem flüchtigen Blick ein Starren. Und da merkte ich: Riley hatte Elizabeth ausgesucht, um mich zum Schweigen zu bringen.« Er atmete schwer durch die Nase und lehnte sich zurück aus dem Lichtkegel in die Dunkelheit. Leichte Erregung ließ seine Stimme lauter werden und seine Hände jedes Wort unterstreichen.
»Während Sie Ihre Fragen stellten, versuchte ich zu begreifen, was eigentlich vor sich ging. Ich war sicher, dass diese Konfrontation eine Drohung war … Wenn ich bei meiner Aussage bleiben sollte, würde Riley Elizabeth bloßstellen. Sie starrte mich flehend an, aber was wollte sie mir sagen? Dass ich eine alte Freundin verschonen sollte, die sich ein neues Leben aufgebaut hatte? Oder dass ich weitermachen und Riley unschädlich machen, vor ihren Augen zu Fall bringen sollte?«
Anselm kannte die Antwort, weil Elizabeth sie ihm am Abend vor dem Prozess gesagt hatte. »Glaubst du, dass Riley unschuldig ist?«, hatte sie ihn mit den Füßen auf dem Tisch gefragt. Und als er nein sagte, hatte sie ihn gebeten, am nächsten Morgen Bradshaw ins Kreuzverhör zu nehmen. »Das ist deine Chance, etwas Bedeutendes zu tun.« Äußerlich hatte Elizabeth leicht gelangweilt gewirkt. Aber innerlich hatte sie geschrien vor Angst, dass George versagen könnte, ohne auch nur im Traum daran zu denken, dass Anselm Erfolg haben könnte. Er starrte auf die Landkarte mit ihren seltsam schönen, aber falschen Proportionen und sagte: »Und bevor Sie sich darüber klar werden konnten, ob sie Erbarmen oder ihre Opferung wollte – denn es hätte ihre öffentliche Demütigung bedeutet –, stellte ich die einzige Frage, die Sie nicht beantworten konnten.«
George sagte nichts.
»Denn wenn Sie dem Gericht von David erzählt hätten, hätte es Ihre eigene Aussage untergraben«, sagte Anselm.
George sagte immer noch nichts.
»Und ausgerechnet Elizabeth hätte argumentieren müssen, George Bradshaws Aussage könne man nicht trauen, weil er schon einmal falsche Anschuldigungen gemacht habe.« Anselm stockte. »Es muss ein furchtbarer Moment gewesen sein, George, als ich Sie aus dem Zeugenstand trieb. Ich kann Ihnen gar nicht sagen, wie leid es mir tut, umso mehr, als ich nicht die leiseste Ahnung hatte, was ich angerichtet hatte.«
An der Tür waren Schritte und leise Stimmen zu hören.
Niemand kennt die Fülle forensischer Enttäuschungen
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