Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
sie: »Aber das war nicht die Lüge.« Mrs. Dixon sprach leise und bestimmt: »Ich wünschte, ich wäre in Lancashire geblieben, aber ich bin in den Süden gezogen, um ganz von vorn anzufangen. Alles, was ich kannte, hatte sich verändert, weil Grahams Vater in der Zeche unter dreißig Tonnen Kohle und Gestein gestorben war.«
Mutter und Kind kamen auf Drängen einer Tante nach London; sie war Näherin, hatte ein Haus, in dem noch Zimmer frei waren, und mehr Aufträge, als sie bewältigen konnte. Es waren schwere Zeiten, denn Mrs. Dixon war mit kaum zwanzig bereits Witwe. Aber dann lernte sie Walter kennen, einen großen, gut aussehenden Mann mit Verantwortung und eigenem Haus in Dagenham. Er war Lagerverwalter in Bow; er konnte Leute einstellen und feuern. Er hatte das Sagen. Nachdem er ihr ein Jahr den Hof gemacht hatte, heirateten sie, und am Ende des zweiten Jahres war ein Kind unterwegs.
Das ist der Anfang, dachte Anselm. Von diesem Augenblick ist alles ausgegangen. Er begriff alles so schlagartig, dass es seine Sicht auf das, was passieren würde, verkürzte und die Details ihm entgingen. Übrig blieb nur die erste simple Erkenntnis, dass Walter Steadman Elizabeth’ Vater war und Riley ihr Halbbruder.
Die beiden Kinder wuchsen unter einem Dach auf, bekamen aber nicht die gleiche Zuneigung. Walter meinte es nicht so, sagte Mrs. Dixon, aber er war hart zu Graham, der nicht sein eigenes Kind war, und sanft zu Elizabeth, die sein eigenes war. Diese ungleiche Liebe war ständig zu spüren, aber Graham verstand einfach nicht, warum: Sie waren doch (wie er glaubte) vom selben Fleisch und Blut. Als Graham größer wurde, zeigte sich ganz offensichtlich: Er war kein Steadman.
»Der Junge war seinem Vater, meiner ersten Liebe, wie aus dem Gesicht geschnitten«, sagte Mrs. Dixon. »Und Walter war eifersüchtig, sogar auf einen Toten. Es war erbärmlich, dass ein so kleiner Junge für einen so großen Mann eine Bedrohung darstellen konnte.« Sie stockte, als käme sie nun zu einem entscheidenden Augenblick: »Und dann machte das Lagerhaus zu, und Walter verlor seine Arbeit.«
Nach einer weiteren Pause fuhr Mrs. Dixon fort: »Es hört sich vielleicht so an, als ob es nichts Besonderes wäre, aber der große Mann, der zehn Jahre lang allen gesagt hatte, was sie zu tun hatten, war arbeitslos. Die einzige Arbeit, die er finden konnte, war Pies von einem Wagen auf der Straße zu verkaufen. Er verlor seine Selbstachtung. Die Männer, die er gefeuert hatte, machten sich über ihn lustig. Was er verdiente, vertrank er, und ich musste doppelt so viel arbeiten. Und wenn er betrunken war, hatte er sich nicht mehr unter Kontrolle.«
Walter schlug Graham und Mrs. Dixon. Aber Elizabeth rührte er nie an. Bei ihr wollte er ein anderer sein – der Mensch, der er hätte sein können –, und diese Sehnsucht überdauerte sogar die Krankheit, die mit dem Bier kam. Aber Graham wurde zu Walters Zielscheibe.
»Wenn etwas im Leben schiefläuft, sucht man jemanden, dem man die Schuld geben kann«, sagte Mrs. Dixon. »Und man sucht sich immer jemanden aus, der anders ist. Graham war anders, in jeder Hinsicht.«
Nach Ansicht seines Lehrers war Graham klug. Er stellte Fragen, auf die es keine einfachen Antworten gab. Vor raueren Spielen schreckte er zurück und sammelte lieber Dinge – alles Mögliche wie Steine und Kronkorken. Er hatte dünne Arme und Beine. Wenn er helfen wollte, die Einkäufe zu tragen, waren sie immer zu schwer für ihn. Das allein machte schon den Unterschied zwischen ihm und Walter deutlich. Und an einem schicksalhaften Tag machte Walter sich volltrunken über ihn genauso lustig, wie nüchterne Männer sich über Walter mokiert hatten.
»Ein Sohn von mir würde niemals Kronkorken sammeln«, sagte Walter schwankend.
»Aber ich bin doch dein Sohn«, fuhr Graham ihn trotzig an.
»Nein, bist du nicht.«
»Was?«
»Du hast mich schon verstanden.«
»So hat er es erfahren«, sagte Mrs. Dixon. »Er bedrängte mich, wollte wissen, wer sein Vater war, seinen richtigen Namen, was passiert war, warum ich es ihm nie gesagt hatte … endlose Fragen … Es war, als ob Walters Wut ihn angesteckt hätte. Von dem Tag an weigerte Graham sich, Walter Vater zu nennen. Er legte den Namen Steadman ab und hieß von da an Riley. Aber seine Wut, die verschwand einfach.«
Anselm erinnerte sich an das Gespräch, das er mit Elizabeth über den Tod seiner Mutter geführt hatte und bei dem er gemerkt hatte, dass sie von seinen
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