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Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten

Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten

Titel: Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Brodrick
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nach war er verrückt geworden. Aber für George ergab es durchaus einen Sinn. Es gab in seinem Leben Dinge, deren Anblick er nicht ertragen konnte und die auch sonst niemand sehen sollte. Die Straße mochte zwar der Ort der Geschichten sein, aber seine sollte unerzählt bleiben. Sobald er die Schweißerbrille trug, sprach ihn kaum noch jemand an. Es war, als sei er gar nicht vorhanden. Sie nannten ihn den blinden George.
    Anfangs schrieb George also seine Lebensgeschichte auf, um sie zu begreifen. Später tat er es, um sein Leben zusammenzuhalten. Denn lange, nachdem Elizabeth ihn gefunden hatte und ihr Plan, Riley in die Falle zu locken, schon weit gediehen war, wurde George der Schädel eingetreten. Sein Gedächtnis flog wie ein Vogelschwarm davon. Mit Elizabeth’ Hilfe hielt er die Einzelheiten am Ende von Heft 36 fest. Das war, nachdem er aufgewacht war und festgestellt hatte, dass in seinem Kopf eine Art See entstanden war: Am anderen Ufer war alles klar bis zu der Woche, als er unter den Fußtritten zusammengebrochen war; aber auf dieser Seite, wo sich sein Leben abspielte, waren die Ereignisse wie Ölschlieren. Wenn er sie nicht festhielt, konnten sie sich beliebig aufspalten, abdriften und zurückkommen – vertraut, aber nicht zu fassen. Er erinnerte sich an Gesichter, Orte und Gesprächsfetzen, fühlte sich aber wie in einer Welt, in der alle anderen die fehlenden Puzzleteile kannten. Die Leute sagten etwas und erwarteten, dass er es verstand. Manchmal war es auch so, aber oft kam er sich vor wie in einer Lotterie, auf die er keinen Einfluss hatte. Die Hefte zu führen war seine Rettung und hielt alles zusammen. Jede Seite half, den See zu überbrücken. Er hielt einfach weiter den Ablauf eines jeden Tages fest.
     
    Elizabeth hatte viel in die Hefte 36 bis 38 geschrieben. Seit er nicht mehr ganz richtig im Kopf war, hatte sie alles festgehalten, was sie gesprochen und getan hatten. Er hatte ihr zugeschaut und heiße Schokolade oder Whisky getrunken. Sie war immer sorgfältig vorgegangen und hatte Worte behandelt wie Münzen. In ihrem letzten Eintrag hatte sie ihm aufgetragen zu warten.
    Nachdem Elizabeth an jenem Morgen nach Mile End Park gefahren war, hatte George in seinem Schlafsack unter der Feuerleiter am Trespass Place gesessen. Bis zum Abend hatte er gewartet, die Stunden gezählt und den Torbogen am Ende des Hofes im Auge behalten. Aber sie war nicht gekommen. Aber plötzlich war ihm, als wäre eine Blase in seinem Kopf nach oben gestiegen und geplatzt, und er hörte etwas, was sie ihm mehr als einmal gesagt hatte: »George, falls mir etwas passieren sollte, mach dir keine Sorgen. Ein Mönch wird kommen.«
    »Ein was?«, hatte er beim ersten Mal gefragt.
    »Ein alter Freund. Er ist ziemlich zerstreut, aber letzten Endes kommt er.«
    George hatte noch einmal in seinem Heft nachgelesen. Sie hatte geschrieben: »Warte …«, nicht »Warte auf mich«.
    Am nächsten Morgen starrte George auf den Torbogen und hoffte, eine andere Gestalt zu sehen, vielleicht einen Dicken mit weißem Strick um den Bauch. Er schaute und wartete den ganzen Tag und die ganze Nacht. Als der nächste Morgen anbrach, stand George auf und hastete durch die Straßen. Er überquerte den Fluss und schlich sich wie ein Dieb zu den Gebäuden von Gray’s Inn.
    George stand vor Elizabeth’ Kanzlei und las die Liste goldener Namen auf einem langen schwarzen Schild. Männer und Frauen schlüpften mit ernsten, roten Gesichtern an ihm vorbei. Die ganze Großartigkeit lähmte ihn. Dann sah er durch eine Glastür einen rundlichen Mann mit orangefarbener Weste. Seine Augenbrauen schwangen sich hoch über stechenden, freundlichen Augen. Er kam heraus.
    »Ich bin Roddy Kemble, und wer sind Sie?«
    George geriet in Panik. »Bradshaw, Sir.«
    Mr. Kemble überlegte einen Augenblick. Er rührte sich nicht, aber er wirkte wie ein Mann, der in einem Pappkarton kramte und dieses und jenes herausnahm. Plötzlich fragte er: »Darf ich nach Ihrem Vornamen fragen?«
    »George.«
    Der Mann ließ die Arme hängen. Er schien gefunden zu haben, was er erwartet hatte, aber nicht finden wollte. Leise sagte er: »Elizabeth ist tot.«
    George rückte seine Schweißerbrille zurecht. Sein Mund wurde trocken, er nickte stumm.
    »Normalerweise würde ich Ihnen eine Zigarette anbieten«, sagte Mr. Kemble. »Aber ich rauche nicht mehr. Möchten Sie ein Pfefferminz?«
    George nickte wieder.
    Mr. Kemble schälte das Silberpapier von der Rolle.

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