Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
»Herzversagen.«
Eine Weile standen sie da und kauten verlegen Pfefferminz, bis Mr. Kemble sagte: »Haben Sie Elizabeth seit dem Prozess noch mal gesehen?«
»Ja, Sir.«
»Öfter?«
»Ja, Sir.«
Mr. Kemble sah aus wie jemand, dessen Haus gerade ausgeraubt wurde. Er legte George schwer die Hand auf die Schulter. »Es ist Zeit, alles zu vergessen, George. Machen Sie einfach weiter, wenn Sie können.«
»Ich mache schon lange nichts mehr, Sir.«
George wich linkisch zurück. Mr. Kemble hob den Arm, als wolle er einen Segen erteilen oder ein Schiff taufen. Wäre die orangefarbene Weste nicht gewesen, hätte George gedacht, dass er traurig aussah.
George stolperte High Holborn hinauf, fand den Weg in die Oxford Street, stieß mit Leuten und Dingen zusammen und erreichte schließlich den Kreisverkehr und Marble Arch – wo er Nino zuletzt gesehen hatte, vor Monaten, im Sommer. Sie hatten auf einer Bank gesessen, und sein Mentor hatte ihm eine seltsame Geschichte über Richtig und Falsch erzählt. Zu dieser Bank ging George, starrte sehnsüchtig auf das Denkmal und wünschte, dass sein Freund mit wehendem blaurotem Schal durch einen der Torbogen käme. Schlaf beschlich ihn. Als er aufwachte, griff er nach Heft 38.
George verließ die Verkehrsinsel und machte sich auf den weiten Fußweg nach Trespass Place. Er dachte an Elizabeth mit ihrem Whisky in der Hand. Sie hatte ihren Tod vorhergesehen und sich darauf vorbereitet. George musste warten, weil ein Mönch kommen würde. Ein weiterer Satz von ihr schwemmte hoch und erfüllte ihn mit Hoffnung: »Egal, was passiert, Riley kann nicht entkommen.«
George beeilte sich, Ninos Geschichte über Richtig und Falsch hervorzulocken, aber sie kam nicht zum Vorschein. Er erinnerte sich nur noch an das Ende, weil Nino so eindringlich gesprochen hatte. Seine Augen waren so weit aufgerissen, als wartete er auf Augentropfen. »Sei niemals lauwarm, alter Freund. Das ist der einzige Weg zu Gnade oder Vergeltung.«
Als er Elizabeth davon erzählt hatte, hatte sie sich den Satz auf der Rückseite eines Briefumschlags notiert.
Unter der Feuerleiter nahm George einen spitzen Stein und ritzte ein paar gerade Striche in die Mauer, einen für jeden Tag, den er gewartet hatte. Das ging auf eine weitere Lehre von Nino zurück: gewissenhaft über alles Buch zu führen, was einem leicht entfallen könnte.
8
VIELLEICHT WAR ANSELM überempfindlich, aber er hätte schwören können, dass die Frau bei BJM Securities ihn mit einer Mischung aus Faszination und Schrecken ansah.
»Sie waren noch nie hier«, sagte Mrs. Tippins, als habe er sie enttäuscht.
»Entschuldigung, wurde ich erwartet?«
»Nein.«
Anselm konnte sich nicht vorstellen, welchen Grund es für den tadelnden Ton geben könnte. »Na ja, jetzt bin ich hier.«
»Das sehe ich, aber Sie kommen zu spät.«
Mrs. Tippins erklärte ihm, dass der Sohn der Verstorbenen einen kleinen roten Koffer an sich genommen habe.
»Gut«, sagte Anselm. Er war fest überzeugt, dass es alles andere als gut war; so hatte Elizabeth das nicht gewollt. »Dann gehe ich einfach wieder nach Hause.«
Mrs. Tippins fühlte sich anscheinend unbehaglich, als versetze ihre elektrostatisch aufgeladene Kleidung ihr winzige Stromstöße. Sie öffnete Anselm die Tür und entschloss sich dann offenbar, die Gelegenheit zu nutzen. »Darf ich Sie mal was fragen … lässt man Sie überhaupt raus?«
»Alle zehn Jahre.«
»Nein: Für wie lange?«
»Zehn Minuten.«
»Ehrlich? Dann machen Sie sich wohl besser auf die Socken.«
»Das war ein Witz.«
Mrs. Tippins kniff die Augen zusammen, als ob es ihr widerstrebte, eingefleischte Überzeugungen aufzugeben.
Auf dem Rückweg nach Larkwood machte Anselm sich Vorwürfe. Nicholas Glendinning hatte die Schließfachkassette geöffnet, während er selbst sich in einem Apfelbaum versteckt hatte. Dem Autor der Genesis hätte es gefallen: Nun wusste Nicholas, was er nicht wissen sollte. Mütter, Söhne und Geheimnisse, dachte er. Eine unselige Kombination, die allerdings häufig zu finden war. Unwillkürlich musste Anselm an den Tod seiner eigenen Mutter, Zélie, und an das Geheimnis denken, das er mit sich herumschleppte. Die Umstände hatten Elizabeth seltsam fasziniert, als er sie ihr kurz nach seinem Eintritt in die Anwaltskammer Gray’s Inn erzählt hatte. Das lag mittlerweile fast zwanzig Jahre zurück.
Sie saßen an einem Freitagabend im Aufenthaltsraum. Der Wind löste bei einem Auto immer wieder die
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