Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
Alarmanlage aus, die sich anscheinend wieder abschaltete, wenn man sie von einem Fenster in der Nähe beschimpfte.
»Sie war wegen einer Operation im Krankenhaus«, erzählte Anselm. »Vor ihrer Entlassung rief mein Vater uns alle zusammen. Er erklärte uns, dass sie sich nicht wieder erholen würde, wir ihr aber nichts davon sagen dürften. Ich war damals neun. Ein paar Tage später kam sie nach Hause. Ich brachte ihr eine Tasse Tee, und sie sagte: ›Eh du dich versiehst, bin ich wieder auf den Beinen.‹ Darauf antwortete ich: ›Nein. Du stirbst.‹«
»Hast du den anderen erzählt, dass du aus der Reihe getanzt bist?«
»Nein. Sie hätten es als Verrat empfunden.«
»Verrat?«, entgegnete Elizabeth, als spräche sie mit einem unsichtbaren Dritten.
»Ja, aber von dem Moment an waren meine Mutter und ich frei. Wir konnten trauern, während sie noch lebte. Wir konnten uns ohne Lügen dem Kommenden stellen. Dabei war mir nicht mal klar gewesen, dass wir in der Falle gesessen hätten, wenn ich meinem Vater gehorcht hätte.«
»In der Falle«, echote Elizabeth.
Sie sprach zu einem imaginären Anderen, aber Anselm merkte es kaum, weil diese alte Geschichte längst vergessene Gefühle aufgewühlt hatte. Seine Augen brannten, und er konnte nur mit stockendem Atem sprechen. »Versteh mich nicht falsch … das ist kein Märchen über den Sieg des Lebens. Kurz vor ihrem Ende sagte sie: ›Ich kann die Geräusche vom Spielplatz hören.‹ Ein Kind trat einen Ball gegen unseren Zaun. Sie schlief fast ein. Aber ihr entschlüpfte noch ein Geständnis: ›Es war eine Schule für den Tod, und ich habe kaum was gelernt.‹«
Elizabeth war wie gebannt.
Anselm parkte unter den Pflaumenbäumen und wischte sich verwundert über den starken, frischen Kummer, den diese Erinnerung heraufbeschwor, die Augen.
Der schmerzliche Verlust seiner Mutter hatte Anselms kindlichem Gemüt eine äußerst erwachsene Wahrheit klar gemacht: Das, woran man hängt, vergeht wie Gras. Mehrmals war Elizabeth mit einer Art flüchtigen Heißhungers auf das Thema zurückgekommen, aber immer nur abstrakt und wenn sie allein waren. Sie hatten über die Ehrlichkeit zwischen Eltern und Kindern gesprochen , über Liebe, die loslässt, über die Bedeutung des Heute. Die halbe Zeit war Anselm im Dickicht der Ideen verloren, aber Elizabeth schien es zu helfen. Er spürte, dass sie einen distanzierten Begleiter wünschte, während sie eine ganz private Übergangsphase durchmachte. Sie war immer für begriffliche Klarheit.
Als Anselm den Kreuzgang erreichte, hatte er sich wieder gefangen. Nachdem er geweint hatte, sah er Dinge immer klarer. Und nun war er überzeugt, dass Elizabeth damals, an einem Freitagabend, beschlossen hatte, ihn eines Tages um Hilfe zu bitten – lange bevor das ›Nichtwissen und Sich-nicht-darum-kümmern-Dürfen‹ sich zu einem Vorwurf entwickelt hatte.
9
ELIZABETH HATTE GEORGE gefunden, bevor man ihm den Schädel eingetreten hatte. Er wusste immer noch nicht, wie sie ihn aufgespürt hatte, allerdings hatte er einen Verdacht. Der einzige Mensch, der über Trespass Place Bescheid wusste, war Nino. Und Nino kannte jeder in der Umgebung. George malte sich also aus, wie Elizabeth unter den Brücken auf Arme tippte, Decken lüftete und einen Mann namens Bradshaw suchte. Man hatte sie offenbar zu Nino geschickt, und ihm musste sie einiges erzählt haben, damit er ihr sagte, wo George untergetaucht war.
In der Ferne war ein wippender Lichtpunkt aufgetaucht und hatte das Kopfsteinpflaster als Höcker aus dem Asphalt wachsen lassen. Der Lichtkegel wurde größer und hob ihre Umrisse schwarz von der Dunkelheit ab. Als sie die Taschenlampe senkte, sah er Goldschnallen auf teuren Schuhen. Der Strahl verlosch, und sie sagte: »Du bist aus dem Gerichtssaal verschwunden, George.«
Er antwortete dem Schatten: »Ja, und ich habe Riley davonkommen lassen.«
»Das haben wir beide.«
Elizabeth setzte sich neben ihn auf den Pappkarton. Sie schauten auf den Hof, die Regenrohre und die Mülltonnen. Dann holte sie ein Fläschchen Whisky und zwei Silberbecher heraus. Es fing an zu regnen. Die Tropfen prasselten auf den Absatz der Feuertreppe. Sie sprachen nicht, sie tranken nur den wärmenden Malt Whisky.
Seitdem kam sie öfter, immer abends. Sie redeten von alten Zeiten. George erzählte ihr, was er vor dem Prozess gemacht hatte: als Gepäckträger im Bonnington Hotel und dann als Betreuer in einem Nachtasyl für Obdachlose gearbeitet, dessen
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