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Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten

Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten

Titel: Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: William Brodrick
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Marble Arch riesig und weiß auf. Eine Fahne flatterte, die Leine schlug gegen den Fahnenmast. Darüber breitete sich ein dunstig blauer Himmel aus. Lautlos wie eine Ameise auf Linoleum glitt ein Flugzeug vorbei. Stöhnend setzte George sich auf und schlug sein Schreibheft auf. Ein Daumen mit eingerissenem schwarzem Fingernagel strich die Seiten glatt. Laut las er:
     
    Ich fahre nach Mile End Park, um Riley zur Rede zu stellen.
    Warte unter der Feuerleiter am Trespass Place. Die Erklärung für Inspector Cartwright ist in der linken Innentasche deines Jacketts. In der rechten Hosentasche sind fünfzig Pfund. Elizabeth.
    Seit Jahren führte George Buch über seine Vergangenheit. Nino, ein ehemaliger Hilfspolizist, hatte darauf bestanden. Es hatte zu der Einweisung in das Leben auf der Straße gehört, die er George gegeben hatte. Seit Nino die Welt der Parksünderprotokolle verlassen hatte, zog er, immer noch mit Schreibblock unter dem Arm, durch die öffentlichen Bibliotheken Londons. In fast jedem Lesesaal hatte er seinen Stammplatz. In einem war sein Stuhl sogar mit seinem Namen versehen – von der Bibliotheksleitung aufgeklebt. Er hatte eine Angewohnheit, die sie zum Wahnsinn trieb und ihn auf Trab hielt: In einer Zweigstelle bestellte er ein Buch, das zum Bestand einer anderen Zweigstelle gehörte. So wanderten alle diese Bücher durch London hinter Nino her, während er in aller Ruhe darauf warten konnte.
    »Denk nicht nach«, hatte er gesagt. »Schreib einfach, fang am Anfang an und mach immer weiter. Die Geschichte begreifst du nur rückblickend. Wenn du anfängst nachzudenken, schreibst du die Geschichte, wie du sie haben willst, nicht die Geschichte, wie sie ist.«
    »Ach.«
    »Die Straße ist ein Platz voller Geschichten«, hatte er feierlich erklärt. Wirres, schwarzes Haar bedeckte seine graue Gesichtshaut. »Leidensgeschichten und heilende Geschichten.«
    George hatte seine Anweisungen befolgt, weil Hilfspolizisten eine eigentümliche Autorität besaßen. Wenn ein Heft voll geschrieben war, fing er ein neues an. Sie waren auf dem Deckblatt nummeriert. Mittlerweile hatte er achtunddreißig solcher Hefte. Georges Leben war darin ordentlich ausgebreitet, die ganzen vierundsechzig Jahre, soweit er sich daran erinnern konnte. Fast jeden Tag hatte er auf einer Parkbank oder in einem Café gesessen und hastig gekritzelt, ohne lange über die Wortwahl nachzudenken. Sobald er etwas aufgeschrieben hatte, ging er vor wie ein Archäologe mit einer Zahnbürste: Behutsam bürstete er den Staub ab, änderte ein Wort oder einen Satz und reinigte das Bewahrte. Es konnte Monate dauern, bis alles richtig war.
    Georges früheste Erinnerung stammte von einem Ausflug im Kinderwagen. Er saß unter einem improvisierten Regenschutz. Seine Mutter hatte ihn gemacht. Eine Art Wachstuchzelt mit eingenähtem Plastikfenster bedeckte seinen Oberkörper. Eine Decke hielt seine darunter hervorragenden Beine warm; aber er konnte nichts sehen, weil das Fenster beschlagen war. Er hörte nur den Regen und die Schritte seiner Mutter auf dem Weg. Sie waren unterwegs zu seinem Opa, dessen Vornamen er trug. David. Diesen Namen benutzte er schon lange nicht mehr, aus Scham. Er war jetzt George. Dieser schmerzliche Ausbruch füllte die ersten Seiten des ersten Hefts, das zusammen mit den anderen in einer Plastiktüte steckte. Sie alle hatte er mit demselben verzweifelten Bemühen um Aufrichtigkeit gefüllt: um sowohl das Gute als auch das Schlechte zu bewahren. Auch das hatte Nino gesagt: »Suche nicht aus, was du festhältst. Alles zählt. Manchmal stellt sich heraus, dass das Schlimmste das Beste hervorgebracht hat.« Wieder war er feierlich ernst geworden. »Das zeigt sich erst, wenn du es aufschreibst.«
    Diese Hefte vollzuschreiben hatte dramatische Auswirkungen auf George. Es machte ihn zu einem einfühlsamen Beobachter – nicht nur seiner selbst, sondern auch aller anderen, die er kannte. Aber das Schreiben machte ihn auch unsicher im Sprechen, weil er durch die Hölle ging, um die richtigen Worte auf Papier zu bannen. Letztlich konfrontierte die Genauigkeit ihn mit den Fehlern, die er in der jüngeren Vergangenheit gemacht hatte, allerdings ohne sie durch Selbstmitleid zu verzerren. Und dann eines Tages kletterte er scharfsichtig und ruhig in einen Bauschuttcontainer.
    Zwischen Holz und Ziegelsteinen entdeckte er zwei schwarze Scheiben: eine Schweißerbrille. Instinktiv setzte er sie auf und tat, als ob er blind wäre. Allein Anschein

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