Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
über den Bürgersteig, als sei er auf dem Weg nach Korfu.
»Dieses Mal war es anders. Ich frage mich, warum Elizabeth die Akte überhaupt behalten hat.«
Roddy zog seinen Koffer polternd über eine Bordsteinkante. »Tut mir leid, mein Sohn. Auf die Frage bin ich überhaupt noch nicht gekommen.« Er wurde geschäftig. »Entschuldigen Sie, ich muss mich jetzt mit Abzughähnen und Sicherungsriegeln befassen. Wussten Sie, dass es unter bestimmten Umständen schwierig ist, den einen ohne den anderen zu drücken? Das müsste gewisse Zweifel wecken.«
Sie verabschiedeten sich, und Anselm beobachtete, wie Roddy grüßend nach links und rechts nickte, während er zum Old Bailey ging. Der Schurke hat sich diese Frage nie gestellt, weil er die Antwort immer schon kannte, dachte Anselm.
6
DIE ERINNERUNG AN Mr. Wyecliffe verdarb Nick die Cornflakes. Sie war wie saure Milch. Er hatte sich die zwielichtige Welt der Kompromisse, in der seine Mutter sich bewegt hatte, nie recht klar gemacht. Nick war mit drei brennenden Fragen aufgewacht. Um die ersten beiden wollte er sich beim Frühstück kümmern. Sein Vater saß ihm gegenüber und musterte ein gekochtes Ei.
»Ich frage mich, was Mum mit den Löffeln wollte.«
»Löffel?« Charles klopfte auf das Ei wie an die Sprechzimmertür eines Arztes.
»Die Löffel, die man auf dem Beifahrersitz gefunden hat.«
»Hat sie wohl in einem Laden gekauft, nehme ich an.«
Nicht an einem Sonntag, dachte Nick. Er wollte keine Vorstellungen durcheinanderbringen, die sein Vater sich möglicherweise über Elizabeth’ Verhalten vor ihrem Tod zusammengereimt hatte. Aber die Löffel erschienen ihm harmlos und wichtig zugleich. Sie hatte sie aller Wahrscheinlichkeit nach kurz vor ihrem Tod bekommen. Ein weiteres, bisher ungeklärtes Detail veranlasste ihn zu der zweiten Frage.
»Was hat sie überhaupt im East End gemacht?«
Charles ließ das Ei auf den Teller fallen. »Sie sagte, es sei beruflich. Eine Tatortbesichtigung.«
Nick fielen die Autopsiefotos auf dem Schreibtisch seiner Mutter ein. Sie gehörten zum letzten Fall, den sie bearbeitet hatte. Das Opfer war in Bristol ermordet worden, nicht in London. Nick hatte die Akten aller Fälle im Grünen Zimmer durchgesehen, bevor sie abgeholt wurden. Keiner hatte etwas mit dem East End zu tun.
Charles krabbelte mit dem Fingernagel an dem angeschlagenen Ei herum und wurde rot. »Was treibst du eigentlich, wenn du aus dem Haus gehst?« Er lachte auf. »Ständig unterwegs. Du wirst wie deine Mutter.«
»Ach, Freunde und unerledigte Sachen.«
Charles nahm ein Messer und kniff die Augen zusammen. Er sah dickköpfig aus. »Das hat sie auch immer gesagt.«
Nach dem Frühstück ging Nick ins Royal Brompton Hospital in Kensington, um die dritte Frage zu klären: die Herzerkrankung, die seine Mutter getötet hatte. Er hatte nichts davon gewusst.
»Sie wollte dich nicht beunruhigen«, hatte Charles am Abend vor der Beerdigung gesagt. Er hatte an seiner Krawatte gezerrt. »Ich hatte keine Ahnung, dass sie ohne Vorwarnung tot umfallen könnte … dass das Ende kommen könnte wie ein Bus, der auf den Bürgersteig fährt.«
Es hatte keinen Sinn, seinen Vater nach Einzelheiten auszuquetschen. Die Anatomie eines Schmetterlings konnte er begreifen, aber die eines Menschen war ihm zu hoch. Zu viele Röhren. Also setzte Nick sich mit der Kardiologin seiner Mutter in Verbindung. Seinem Vater sagte er nichts davon.
Auf dem Schreibtisch vor Dr. Simbiat Okoye lag eine dünne Patientenakte. Nachdenklich blätterte sie sie durch. Ihr Haar war zu einem dicken Zopf geflochten und im Nacken zu einem lockeren Knoten aufgesteckt.
Als sie sprach, musterte sie aufmerksam das Gesicht ihres Besuchers. »Ihre Mutter hatte eine hypertrophische Kardiomyopathie.«
Nick ließ die Worte sacken. Es war eine Erbkrankheit, durch die der Herzmuskel dick und steif wurde. Das wirkte sich wiederum auf den Kreislauf und die Herzklappenfunktion aus. Sie war unheilbar und vererbte sich mit einer Wahrscheinlichkeit von fünfzig zu fünfzig auf die Kinder.
»Sie haben die Veranlagung nicht«, sagte Dr. Oboye. Ihre Augen waren dunkel mit einem Hauch Rosa um das Weiß.
»Sie hat mich ohne mein Wissen untersuchen lassen, bevor ich nach Australien gefahren bin?«
»Ja.«
Dr. Oboye erzählte ihm die Krankengeschichte und das Ergebnis der Konsultation. Elizabeth hatte vor etwa zehn Jahren erstmals unter Atemnot und Schmerzen in der Brust gelitten. Sie hatte das auf Stress bei der
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