Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
Arbeit zurückgeführt: In letzter Zeit hatte sie Angst vor dem Gericht – nicht die übliche Nervosität, sondern eine beklemmende Angst, die sie krank machen konnte. So etwas hatte sie bis dahin nicht gekannt. Für Herzrasen und Schwindel machte sie die Wechseljahre verantwortlich. Und dann war sie vor etwa einem Jahr ohnmächtig zusammengebrochen. Ihr Hausarzt ließ sie ins Krankenhaus bringen.
»Eine Operation war nicht nötig«, erzählte Dr. Oboye. »Ich habe Betablocker und Medikamente gegen Herzrhythmusstörungen verschrieben. Die medikamentöse Therapie war erfolgreich, aber …«
»… bei einigen wenigen Patienten besteht das Risiko eines plötzlichen Herztods … als ob sie vom Bus überfahren würden. Meine Mutter war eine davon.«
»Ja. Möchten Sie meine Unterlagen sehen?«
»Nein, danke.« Er stellte die Frage, auf die sie wartete. »Wie hat meine Mutter es bekommen … ich meine … von welchem Elternteil, von ihrem Vater oder ihrer Mutter?«
»Das lässt sich heute nicht mehr feststellen«, antwortete Dr. Oboye. »Nach allem, was sie mir erzählt hat, könnte es von ihrem Vater sein. Soviel ich weiß, starb er in einem Sessel mit einem Glas Milch in der Hand.«
»Ja«, bestätigte Nick. »Er ist verlöscht wie eine Kerze.«
Nicks Großmutter war ihrem Mann kurze Zeit später gefolgt, durch eine Blutvergiftung. Er hatte beide nie kennen gelernt. Geschwister hatte seine Mutter nicht, also gab es sonst niemanden in der Erblinie.
Dr. Oboye stand auf und trat ans Fenster. Mit einer Geste winkte sie ihn neben sich. »Sehen Sie, da unten im Hof.«
In der Mitte eines Springbrunnens stand eine Kupferskulptur. Zwei aneinanderangrenzende Becken kanalisierten einen Wasserlauf. Am Rand standen exotische Kübelpflanzen mit Blättern, die wie offene Scheren aussahen.
»Es zeigt einen verborgenen Aspekt des Herzrhythmus«, erklärte Dr. Oboye. »Die Blutbewegung resultiert nicht nur aus der Muskelkontraktion, sondern auch aus Oberflächenwellen, die durch den Blutzustrom entstehen. Es scheint, als könne der Kreislauf, wenn er einmal angestoßen wurde, allein durch die Konfiguration der Hohlräume und den Schwung des Blutes ewig weitergehen, ohne die Energie eines Herzens zu brauchen, das eines Tages ermüden wird. Leider ist es nicht so. Wie Sie sehen, brauchen Kunst und Natur eine Pumpe.«
Sie deutete auf ein Ende der Skulptur.
Nick lehnte den Kopf an die Fensterscheibe und betrachtete die Grünpflanzen.
»An diesem Fenster haben Ihre Mutter und ich auch gestanden«, sagte Dr. Oboye. »Sie war sehr bedrückt. Aber das Herz birgt ein größeres Geheimnis als nur eine Schwäche.«
»Was?«
»Es ist ein Wunder, dass es überhaupt je geschlagen hat.«
Auf dem Weg aus dem Krankenhaus blieb Nick im Hof stehen und betrachtete das Wasser, das zwischen zwei Metallschaufeln platschte und spritzte. Er dachte nicht an mögliche Welten, sondern an die Unergründlichkeit dieser Welt: Seine Mutter war ins East End gefahren, hatte einen Satz Löffel gekauft, und ihr Herz hatte zu schlagen aufgehört.
7
NACHDEM MAN GEORGE den Schädel eingetreten hatte, wurde er irgendwann in einem ausgesprochen hübschen Park am Imperial War Museum wach. Tatsächlich war in der Zwischenzeit viel passiert. Vieles fiel ihm von selbst wieder ein, und manche Lücken füllte Elizabeth so gut sie konnte. Ihre Stimme weckte weitere Erinnerungen, und so nahmen die Geschehnisse durch ihre gemeinsamen Bemühungen Gestalt an.
Die Vorgeschichte war klar.
George mochte den Hafen nicht: Nachts schien das Lagerhaus aufzuwachen und die Backsteine ächzten und stöhnten: Nachklang verlorener Geschäftigkeit. Vor allem aber war es nicht sein Terrain. Sein Revier lag südlich des Flusses rund um Trespass Place. Ein paar Tage, nachdem Elizabeth nach den Rechnungsblocks gefragt hatte, ging George daher nach Einbruch der Dunkelheit nach Waterloo. Er war nur ein paar Minuten von seiner Feuerleiter entfernt, als es passierte.
Es gab keinen Grund für den Angriff. George versuchte weder einer alten Dame zu helfen noch einen Dieb zu stellen. Er saß einfach nur auf einer Bank und aß Popcorn. Aus den Augenwinkeln sah er einen schlaksigen Jugendlichen in wattierter Jacke … und dann noch einen mit rasiertem Kopf. Sie lachten und stießen sich gegenseitig mit den Ellbogen an wie Kinder bei einem Schulausflug. Wenn der Lehrer gerade nicht hinsah, blühte der Unsinn. Der mit der Jacke fragte nach Popcorn. George reichte es ihm. Der Glatzkopf
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