Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
kippte es George über den Kopf wie ein großes Salzfass. Als er aufstand, fingen sie an zu treten, als ob es ein Tanz, ein neuer Sport wäre. Sie keuchten, grunzten und stöhnten.
Und dann fing das Durcheinander in Georges Kopf an: Er konnte sich nicht erinnern, wie man ihn ins Krankenhaus gebracht hatte und er es auf eigene Faust verlassen hatte und in den Park des Imperial War Museum gegangen war. Nach einem Schlaf wie im Vollrausch schlug George einfach die Augen auf und sah die Bäume … und Wolken wie Schlagsahnestreifen in einem hellblauen Pudding … und sein erster Gedanke war, wie schön die Welt sei. Der Duft von frisch gemähtem Gras war so intensiv, dass er ihn beinah schmecken konnte. Das muss der Himmel sein, dachte er. Überströmend vor Freude ging George aus dem Park, um zu sehen, was ihn erwartete. Erst als er durch die prachtvollen, seltsam vertrauten Straßen schlenderte, merkte er, dass etwas in seinem Kopf nicht richtig war. Instinktiv ging er wie ein verwundetes Tier zum Trespass Place, wo Elizabeth ihn schließlich fand.
Sie hatte wie üblich am Lawtons Kai gewartet. Als George nicht kam, ging sie zur Polizei, die das Krankenhaus ausfindig machte. Aber als Elizabeth dort ankam, war er bereits von der Station verschwunden. »Ich wusste, dass du hierher zurückkommen würdest«, sagte sie voller Zuneigung. In der Hand hielt sie die beiden Plastiktüten, die sie aus dem Hafenviertel mitgebracht hatte. Gleich an Ort und Stelle unter der Feuertreppe las sie ihm die letzten beiden Hefte vor, die das Bekannte enthielten; anschließend nahmen sie gemeinsam das Unbekannte in Angriff.
Es gab keine scharfe Trennlinie. Die Wochen vor dem Überfall waren durcheinandergeschüttelt, die Ereignisse ein wildes Gewirr, und manche fehlten völlig, aber zum Glück waren Georges Niederschriften sehr ausführlich. Sie boten seinem Gedächtnis ein Gerüst. Dankbar baute er aus den Teilen, die er bewahrt hatte, die Vergangenheit in seinem Kopf wieder auf. Als Elizabeth fertig vorgelesen hatte, sagte sie: »Das musst du jeden Tag machen, um festzuhalten, was du hast.« Dann gingen sie zu Marco’s. Sie setzten sich an einen Tisch, ohne etwas zu bestellen. Es gab keinen Toast mit heißer Schokolade.
»Es ist vorbei«, erklärte Elizabeth kurz und bündig. »Es ist Zeit, dass du von der Straße kommst, egal, ob du soweit bist oder nicht; und es ist Zeit, Riley laufen zu lassen.«
Die Erwähnung dieses Namens war wie ein Stich, eine Injektion ins Herz.
»Ich habe eine Reha-Klinik ausgesucht«, erklärte Elizabeth bestimmt. »Da kannst du so lange wie nötig bleiben.«
»Nein danke.« George ging an die Theke und bestellte Toast und heiße Schokolade. Er kam mit einem Tablett zurück und sagte: »Ich gehe wieder zu Nancy.«
George ging eine Weile nicht wieder in den Laden. Er studierte seine Notizhefte, warf seine Erinnerungen mit denen von Elizabeth in einen Topf und brachte sein Gedächtnis auf den neuesten Stand. Er war wie ein Mann mit einem neuen Spielzeug oder einer merkwürdigen Waffe: Er musste sich an den Umgang mit seinem veränderten Geisteszustand gewöhnen. Er musste erst wieder lernen. Beziehungen zu knüpfen. Es erforderte Übung und Geduld. Statt Ereignisse am Ende des Tages aufzuschreiben, notierte er sie jetzt, kurz nachdem sie passiert waren. Er führte Listen von allem, was zu tun war. Und beides las er im Laufe des Tages häufig durch. Es war, als würde man eine Sanduhr umdrehen, bevor der Sand vollständig durchgelaufen war. Jede Minute war kostbar, obwohl er wusste, dass sie endgültig verloren war. Das Wesentliche war schriftlich festgehalten, daher konnte er den Rest fahren lassen. In den Notizheften und Listen stand natürlich nichts Bedeutendes – George passierte nichts Wichtiges –, nur Alltägliches, aber auf diese Weise machte George sich wieder mit kleinen Dingen vertraut. Er schlief nach wie vor am Trespass Place, und abends kam Elizabeth. Sie fragte seine aktuelle Liste ab. Allmählich machte er sich recht gut. Hätte es einen Preis gegeben, er hätte ihn bekommen. Und als er sich wieder im Griff hatte, ging er zurück in das Lagerhaus auf der Isle of Dogs. Und er besuchte Nancy wieder in ihrem Laden in Bow.
Am ersten Tag saßen sie am Gasofen und George erzählte ihr, dass er halb den Verstand verloren hatte und dass er seinen Sohn verloren hatte: Das kam ganz von selbst, weil die jüngste Vergangenheit verschwunden und sein Verlust daher frisch wie am ersten Tag war.
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