Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
Gespür – nachdem es ihnen immer wieder passiert ist, dass sie das Offensichtliche übersehen haben. Es ist eine Art Jagdinstinkt, eine Witterung. Und die Abneigung gegen einen durchaus gängigen Vornamen fand Anselm nicht überzeugend. Ohne Anweisung oder faktischen Grund beschloss Anselm, seiner Nase zu folgen.
»Leute ändern ihren Namen aus allen möglichen Gründen, nicht wahr?«
»Ja.«
»In den meisten Fällen tun sie es, um neu anzufangen?«
»Ja.«
»Ein Leben endet sozusagen und ein anderes beginnt?«
»Ja.«
»War das bei Ihnen auch so?«
»Ja.«
Anselm legte eine Pause ein und ließ seiner Fantasie freien Lauf. »Es bedeutete, dass David in aller Stille verschwand, nehme ich an?«
»Ja.«
»Und George kam zum Vorschein?«
»Ja.«
Anselm beging nicht den Fehler, »Warum« zu fragen. Vielmehr wechselte er das Thema und tastete sich weiter vor.
»Sie sind Leiter des Nachtasyls Bridges?«
»Ja.«
»Wo Sie seit dreiundzwanzig Jahren arbeiten.«
»Ja.«
»Soweit ich weiß, kümmern Sie sich da um die Bedürfnisse einer äußerst schwierigen Klientel, nicht wahr?«
»Ja.«
»Wenn ich das recht verstanden habe, hatten Sie schon junge Menschen von neun Jahren in Ihrer Obhut?«
»Ja.«
»Ich nehme an, ein Angestellter in Ihrer Position muss charakterlich einwandfrei sein?«
»Ja.«
Anselm machte eine Pause und beobachtete jede Regung im Gesicht des Zeugen.
»Sagen Sie, Mr. Bradshaw, wen hat das Nachtasyl eingestellt: David oder George?«
»Ich verstehe nicht.«
»Welchen Namen haben Sie auf dem Bewerbungsformular angegeben?«
»George.«
Ein Amateur hätte als Nächstes wieder »Warum« gefragt. Anselm widerstand dieser Versuchung: In diesem Stadium war in erster Linie zu beachten, dass alles, was Bradshaw gesagt hatte, noch in die eine oder andere Richtung ausschlagen konnte: be- oder entlastend. Roddy sagte oft, bei ehrlichen Zeugen sei es am besten, die Fragen möglichst allgemein zu halten, weil sie dazu neigten, ihnen Bedeutung beizumessen – so führe ihr Gewissen sie zu dem entscheidenden, unbekannten Detail. Anselm musste herausfinden, ob Bradshaws Wechsel vom ersten zum zweiten Vornamen in einem Zusammenhang zu der Tatsache stand, dass er seine jetzige Stelle unter seinem zweiten Vornamen angetreten hatte.
»Mr. Bradshaw, haben Sie jemals etwas getan, was polizeibekannt geworden ist?«
»Ja.«
»Und, war das als David oder als George?«
»David.«
Jetzt musste Anselm den letzten Schritt tun. Es gab kein weiteres Terrain mehr zu erkunden. Bradshaw würde sich entweder vollständig entlasten, indem er ein unbezahltes Bußgeld wegen Falschparkens gestand, oder er würde etwas offenbaren, was sich nutzen ließe, um seine Integrität in Zweifel zu ziehen. Er sagte: »Was hat David getan, das George vergessen wollte?«
Der Gerichtssaal macht jeden zum Voyeur. Zeugen werden oft weit über das hinaus bloßgestellt, was Kleider verbergen können. Es hat etwas finster Faszinierendes und kann Zuschauern eine geradezu schmutzige Lust bereiten. Diese Dinge hatte Anselm schon vor langer Zeit gelernt. Aber als er mit Roddy sprach, durchschoss ihn die Spannung dieses Spektakels, als wäre es das erste, verbotene Mal. Bradshaw starrte mit bleichem Gesicht über den Gerichtssaal hinweg. Die Geschworenen beobachteten ihn – ebenso wie die Anwälte, die Gerichtsdiener, die Reporter und die Zuschauer. Ein Richter schaute sich dieses Drama von oben an und hielt wie gebannt den Stift über dem Papier gezückt. Kein noch so winziges Detail würde dem offiziellen Protokoll entgehen. Dann trat David George Bradshaw aus dem Zeugenstand, als hätte ihn jemand gerufen, und verließ den Saal. Eine halbe Stunde später ging Riley als freier Mann durch dieselbe Tür.
Roddy bewahrte seine Akten und seinen Talar in einem karierten Koffer mit Rollen auf. Er holperte und ratterte hinter ihm her, als er ihn durch das Gebäude der Anwaltskammer und die Treppe hinunter auf den Gray’s Inn Square zog. Anselm ging hinter ihm her und war überzeugt, dass Roddy den Revolver aus guten Gründen eingehend untersucht hatte, dass er dieses Beweisstück aber vor allem – mit Genehmigung des Gerichts – mitgenommen hatte, um sich an der Aufregung zu weiden, die er vorübergehend auslösen würde, sobald er ihn wieder ins Gericht mitzunehmen versuchte. Aber im Augenblick hatte Anselm andere Sorgen. »Irgendwas ist bei dem Prozess völlig an mir vorbeigegangen.«
»Ist das nicht immer so?« Er watschelte
Weitere Kostenlose Bücher