Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
in ihren Ohren klang es fremd, als sie »Ja« sagte.
»Wovor?«
Das wollte Nancy nicht sagen. Es klang albern. Hätte er sie gefragt, ob ihr Mann wütend wäre, hätte sie gesagt: »O ja«, und damit hätte es sich gehabt. Aber diese Frage hatte Gedanken tief in ihrem Inneren aufgewühlt, irgendwo anders als im Kopf – eigentlich waren es keine Gedanken; sie wusste nicht, was es eigentlich war, aber es passierte in ihren Lungen und weiter unten, im Bauch. »Also«, sagte sie und fühlte sich schwach, während ihr erneut der Schweiß ausbrach, »er hatte Angst vor dem Jäger in Bambi, dabei hat man ihn nie gesehen.«
Mr. Wyecliffe nickte wie der Doktor und ließ sich keine Überraschung anmerken.
Nancy redete weiter, blind vor Salz und Demütigung. »Und er kann die neue Königin in Schneewittchen nicht leiden.«
Mr. Wyecliffe nickte weiter mit geschlossenen Augen. Dann fragte er: »Und was ist mit der kleinen Prinzessin?«
Und dann ging Nancy zu weit – ohne zu wissen, wieso, außer im Bauch. Sie antwortete: »Er hasst sie.« Sie hatte dieses Wort nie gemocht. Es war hart und scharf und irgendwie düster.
Das Schwitzen hatte aufgehört, jetzt war ihr kalt. Nancy saß mit verschränkten Armen da und fühlte sich, als wäre sie splitternackt. Diese demütigenden Hitzewellen konnten wohl noch jahrelang kommen. Das hatte der Doktor gesagt. Nancy kramte ein Taschentuch heraus.
»Ich denke, wir werden Sie nicht als Zeugin benennen.«
Mr. Wyecliffe legte seinen Stift hin. Und Nancy wusste – sie war schließlich nicht blöd –, dass er nie die Absicht hatte, sie in den Zeugenstand zu rufen.
Die Autos setzten auf dem Höcker auf und fuhren an Nancys Tür vorbei. Unsicher blinzelnd, als sei sie gerade gelandet, fingerte Nancy an dem Heft in ihrem Schoß herum. Es schlug wie von selbst in der Mitte auf. Ein Kaffee- oder Teefleck hatte die Tinte zerlaufen lassen, das Papier war wellig und klebrig.
… und ihr Haar war ganz straff nach hinten gekämmt. Wie alle weiblichen Angestellten im Bonnington musste sie ein schwarzes Kleid mit einer weißen Rüschenschürze tragen. Sie sah darin aus wie ein Dienstmädchen aus der Forsyte-Saga. Ich sah, wie sie einen Wäschewagen durch den Flur schob. Es war das erste Mal, dass ich Emily sah. Und ich sagte mir: »Bevor das Jahr um ist, werde ich diese Frau heiraten.« Schließlich fand ich das Büro des Geschäftsführers. Schwester Dorothy hatte gesagt, dass er unfreundlich sein würde, und sie hatte Recht, aber sie hatte auch gesagt, ich sollte nur auf sein Lächeln achten, und das habe ich auch getan. Er sagte: »Junger Mann, Sie brauchen nichts anderes zu tun als Koffer zu tragen, reden Sie nicht, wenn Sie nicht angesprochen werden, und lungern Sie nicht herum, um auf Trinkgeld zu warten. Wir sind hier in London, nicht in New York.« Ich war das, was ein amerikanischer Geschäftsmann mal den »bell hop« nannte – wahrscheinlich weil ich angelaufen kam, wenn ich ein Klingeln von der Rezeption hörte. Leider war Emily nicht an mir interessiert.
Nancy war nun ganz bei der Sache. Eifrig blätterte sie die Seite um, aber etwas wie Marmelade hatte sie mit den nächsten Seiten verklebt.
… und da hob eine Schwester ihn hoch in die Luft. Ich sagte: »Mein Gott, Entschuldigung«, weil ich dachte, ich wäre in den falschen Kreißsaal gegangen. Aber dann sah ich Emily auf dem Bett. Und dann merkte ich, dass das Baby in der Luft, das auf dem Weg zur Waage war, mein Sohn war. Ich hatte seine Geburt knapp verpasst. Ich erinnere mich an kein einziges Geräusch, keinen Schrei.
Langsam schloss Nancy das Heft an der Stelle, die sie am meisten interessierte. Das musste der Sohn sein, den er später irgendwann verloren hatte, der Junge, der auf dem Pier in Southport entlanggelaufen war. Aus Respekt vor Mr. Johnson wollte sie nicht weiterlesen, weil er ihr nie erzählt hatte, was passiert war.
Ich bin furchtbar, dachte Nancy. Mr. Johnson hatte seine eigene Tragödie, und sie flüchtete sich aus ihrer in seine Geschichte, als ob sie nicht real wäre.
8
GEORGE STAND AUF, nahm die Plastiktüte, die ihm geblieben war, und verließ Trespass Place. Als er unter dem Torbogen durchging, wusste er, dass er nie wieder zurückkommen würde. Das Warten war vorbei.
Viele Leute glauben, Obdachlose lebten von einem Augenblick zum anderen. Mal sind sie da, in einem Hauseingang – wie seit Monaten –, und dann sind sie verschwunden. In Wirklichkeit beruht dieses
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