Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
Umherziehen auf Entscheidungen. Weiterziehen hat etwas damit zu tun, einer Entscheidung zu gehorchen – genau wie der ursprüngliche Schritt, sein Zuhause zu verlassen.
Als George vor Jahren Trespass Place fand, sagte Nino, das Leben auf der Straße sei, als wandere man rund um die Erde.
»Es ist eine Abkehr, aber es kann zu einer Rückkehr werden.«
Den ersten Teil hatte George sofort verstanden, denn als er unter die Blackfriars Bridge gekommen war, hatte er damit versucht, vor einem einzigen Gespräch zu fliehen.
Nach dem Prozess verließ George kaum noch den Wohnzimmersessel. Er schaute aus dem Fenster auf die Baumwipfel von Mitcham. John war vierzehn. In letzter Zeit hatte er sich angewöhnt, sein Haar mit Gel zu verwuscheln. Seine Haut war wund, als ob er sich die Wangen mit einer Nagelbürste schrubben würde. Immer wieder kam er ins Zimmer. Er setzte sich auf verschiedene Sessel, als ob er versuchte, seinen Vater aus einem neuen Blickwinkel zu sehen. Er erinnerte George an die Rettungsschwimmer im Schwimmbad. Sie hatten so eine Art, Leute anzustarren, die in Schwierigkeiten sein könnten. Immer waren sie jung, athletisch und selbstbewusst. John war klein, zäh und hatte dünne Arme und lange Finger.
Eines Tages setzte John sich auf eine Sessellehne und verknotete seine Finger. Er war wie jemand, der zum Sprung ansetzt. Im Fernsehen lief die Quizsendung Countdown, und ein fröhlicher Moderator addierte schneller Zahlen, als George denken konnte. Er spürte, wie John sich zu ihm beugte.
»Dad, ich glaube alles, was du vor Gericht gesagt hast.«
Die Lokalpresse hatte George in Stücke gerissen. Die Staatsanwaltschaft erwog, Anklage zu erheben – wegen eines nicht näher genannten Vergehens.
»Danke.« Es klang abgedroschen, aber sein Herz pochte vor Glück.
»Du darfst dir keine Vorwürfe machen, Dad«, sagte John. Er verwuschelte sich das Haar noch mehr und fasste Selbstvertrauen. »Es spielt keine Rolle, dass Riley davongekommen ist. Er hat nur die Drecksarbeit für andere erledigt. Die Polizei fängt immer nur die kleinen Fische … Das ist nicht deine Schuld.«
George erlaubte sich, seinen Sohn anzuschauen. Es fiel ihm schwer, weil der Junge so ernst und leidenschaftlich bemüht war, seinen Vater zu retten.
»Ich frage mich, wer der Pieman sein könnte«, fragte John kalt.
Der Junge hatte lange nachgedacht und Schlüsse gezogen. Für ihn stand fest, wer der eigentliche Kriminelle war, den die Polizei nicht verhaftet hatte. George schaute wieder auf den Fernseher, wo die Ergebnisse vorgelesen wurden. Ohne nachzudenken sagte George: »Da musst du Riley fragen.«
Die Bemerkung musste wohl wie ein Obstkern im fruchtbaren Boden gelandet sein, denn jahrelang unternahm der Junge nichts.
Als George aus seiner Haustür gegangen war, hatte er dieser Bemerkung während der Sendung Countdown den Rücken gekehrt. Außerdem hatte er sich von der Flut der Erinnerungen abgekehrt, die Emily weckte. Aber sobald er Nino kennen gelernt hatte, brachte der alte Mann ihn auf Kurs, sich ihnen wieder zu stellen – nicht nur flüchtig, sondern in allen Einzelheiten, die er in seinen Schreibheften festhalten konnte. Trotzdem war die Abkehr wichtig gewesen.
Und jetzt verließ er mit ähnlicher Entschlossenheit Trespass Place und »einem Königsplan, den Schurken zu Fall zu bringen« oder so; Elizabeth hatte oft hochtrabende Formulierungen für das benutzt, was sie taten. Und er hatte gewusst, wieso: Ebenso wie George hatte auch sie nie akzeptiert, dass man Riley für Johns Tod nicht vor Gericht bringen konnte. Das alles – ein Prozess und seine Nachwirkungen – gehörte an einen Stillpunkt der Erde. George zog weiter, und die Plastiktüte rieb sich raschelnd an seinem Bein.
George war wohl schon eine halbe Stunde gegangen, als ihm auffiel, dass er Richtung Süden unterwegs war, weitab von seinem Revier. Er ging nie nach Süden. Da lag Mitcham. Er fragte sich, wohin er gehen mochte; und wieder fiel ihm Nino ein und das, was der alte Mann ihm an dem Morgen nach der Pandora-Geschichte gesagt hatte, als sie aus dem Nachtasyl kamen. »Die Straße ist der Ort der Geschichten«, hatte er gesagt und sich an eine Mauer gelehnt. »Geschichten, wie man hingekommen ist und wie man wegkommen könnte.«
Aber er hatte noch etwas gesagt – und es hatte George Angst eingejagt: »Es gibt Geschichten, wie man bleiben kann.«
Das wollte George nicht. Ganz plötzlich wurden seine Schritte schneller, er wollte die
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