Pater Anselm Bd. 2 - Die Gärten der Toten
war schlichtweg nicht imstande, ihr zu sagen, dass das Buch, ihr Geschenk, dauerhaft beschädigt war. Eine Frage rutschte ihm heraus, bevor er sich für seinen Scharfsinn bewundern konnte: »Wann haben Sie sie zum letzten Mal gesehen?«
»Vor vierzig Jahren«, sagte Schwester Dorothy vage, als nicke sie ein. Sie schloss die Augen. Anselm beobachtete sie eine Weile. Dann schlich er auf Zehenspitzen fort, überzeugt, dass die Nonne mit der braunen Pakol genug hatte.
Erst als Anselm die Treppe zur U-Bahn hinuntertrottete, befiel ihn das Gefühl, dass mit dem ganzen Gespräch irgendetwas nicht stimmte – aber er wusste nicht was.
In Hoxton fand er zwei Blatt Papier vor seiner Schlafzimmertür. Das erste war das Fax aus Larkwood. Das zweite war eine Nachricht mit der Bitte, Inspector Cartwright anzurufen.
Anselm las den Brief von Elizabeth im Licht eines Fensters:
Lieber Anselm, Ich wäre dir sehr dankbar, wenn du die folgende Dame besuchen würdest:
Mrs. Irene Dixon
Wohnung 269
Percival Court Shoreditch
Mrs. Dixon weiß möglicherweise noch nicht, dass ich tot bin, erkläre es ihr also bitte, falls nötig. Danach solltest du mehr zuhören als reden. Ich schlage vor, dass du unangemeldet hingehst.
Leb wohl, Anselm. Du hast mir mehr geholfen, als du weißt.
Liebe Grüße
Elizabeth
Anselm ließ die Hände sinken. Das war der letzte Brief, dessen war er sicher. Er dachte an Elizabeth, das reiche Waisenkind, das selbst im Tod nicht ganz fort war und nicht loslassen konnte. Bedrückt rief er Inspector Cartwright an.
»Sie werden es nicht glauben«, sagte sie, »aber ich habe einen Brief von Mrs. Glendinning bekommen.«
Sie verabredeten, sich in einer halben Stunde zu treffen. Während Anselm sich zu diesem nächsten unvorhergesehenen Termin aufmachte, kam er sich mehr und mehr vor wie ein Esel am Zügel. Vielleicht war es der Weg zurück zur U-Bahn, der ihm eine weitere verschleierte Wahrheit klar machte: Die alte Schachtel mit der Wollmütze hatte ihn ganz schön abblitzen lassen, aber er wusste nicht wie und ahnte nicht warum.
7
BEIM FRÜHSTÜCK ERZÄHLTE Nancy, dass Prosser wieder herumgeschnüffelt hatte.
Riley schaute auf, stellte seinen Tee ab und drehte durch. Er schnappte einen Teller und schleuderte ihn wie ein Frisbee an die Wand. Die Scherben spritzten nach allen Seiten. Arnold flitzte von seinem Laufrad, und Nancy duckte sich wie bei einem Luftangriff (als junges Mädchen hatte sie sich in die U-Bahn geflüchtet, während die Nazis London in Schutt und Asche legten).
»Ich bin den Kerl leid«, brüllte Riley. Sein Mund schob sich vor wie bei einem Boxer, und er jagte schnaufend und schnaubend in dem Boxring in seinem Kopf herum. »Ständig beobachtet er mich und kaut dabei auf seiner Zigarre rum.«
Riley suchte nach etwas, was er werfen konnte, aber Nancy hatte den Tisch abgeräumt.
»Ich rede mit Wyecliffe«, schwor Riley.
»Wann?«, fragte Nancy und ließ eine Tasse fallen. »Wozu?«
»Heute Abend gehe ich hin«, schäumte er. »Und dann drückt er Prosser eine Verfügung aufs Auge.«
Das klang sehr juristisch, fand Nancy, die nicht recht wusste, was es bedeutete.
Mit neuem Auftrieb und Schwung machte Riley sich auf den Weg zur Arbeit, wobei seine Stiefel auf den Fliesen knirschten.
Als Nancy an diesem Morgen pflichtschuldig den Laden öffnete, ging sie geradewegs an den Aktenschrank. Sie knotete Mr. Johnsons Plastiktüte auf und holte das erstbeste Heft heraus, das ihr in die Hände fiel. Sie setzte sich ans Feuer und wollte lesen, um die Erinnerung an diesen Anwalt in seinem muffigen, dämmrigen Büro zu vertreiben. Aber er war zu stark. Nancy ließ das Heft auf ihren Schoß sinken. Fast spürte sie seinen Atem und roch die Nüsse.
Ein paar Wochen nach der »Vorbesprechung« im Bungalow schickte Mr. Wyecliffe Nancy einen Brief mit der »Bitte um Ihr freundliches Erscheinen«.
Sie hatte gedacht, Anwälte dürften keinen Bart haben, aber er war wie eine alte Klobürste. Sie mochte ihn nicht. Nicht weil er Hunger hatte, als es ihm den Appetit hätte verschlagen sollen, auch nicht weil er sie gründlich in die Mangel genommen hatte (er hatte sich über den Schreibtisch gebeugt, an seinem haarigen Kinn gezupft, sich nicht mit einem Nein zufrieden gegeben und in ihrem Privatleben herumgestochert: Es war gerade so, als ob er hinter was her gewesen wäre, aber nicht sagen wollte, hinter was). Nein, sie konnte ihn nicht leiden, weil sie zu viel gesagt hatte. Ihr war
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