Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
sie, die in ihm nur die Verkörperung des Todes gesehen hatte, hatte ihn rufen lassen. Nur selten kam er auf die Gynäkologie, und gerade um das seelische Wohl der Frühgeborenen war es hier im Klinikum nicht gut bestellt, fand er. Sechs Nottaufen in sechs Jahren waren eindeutig zu wenig.
»Danke, dass Sie so schnell gekommen sind«, sagte die Frau. »Ich frage mich die ganze Zeit schon, was mit den Seelen meiner Kinder passieren würde, wenn sie sterben, bevor sie getauft wurden.«
Immer wieder erbebte ihr Körper beim Sprechen unter Schmerzwellen, und sie stöhnte auf. Der Pater ergriff ihre Hand.
»Bitte taufen Sie unseren Jungen. Kilian soll er heißen!«
Sie hatte noch viele Fragen, und er beantwortete auch die, die sie nicht stellte. Er sprach über den Namenspatron Kilian, den Bischof von Würzburg, der das Christentum in der Gegend verbreitete und als starke Persönlichkeit in die Religionsgeschichte eingegangen sei. Er erklärte ihr, dass auch die Seele eines nichtgetauften Kindes nicht verloren sei, dass es in die Liebe Gottes aufgenommen würde, so als wenn es ins Leben gerufen worden wäre. Erst kürzlich habe Papst Benedikt das in einer Verlautbarung in aller Eindeutigkeit kundgetan.
Der Pater war froh, dass die Frau ihn nicht bat, auch das Ungeborene im Mutterleib zu taufen. Das hätte er nach den Vorschriften der katholischen Kirche zurückweisen müssen. Es war noch nicht lange her, dass eine andere Mutter nach seiner Weigerung wütend geworden war und ihn des Zimmers verwiesen hatte.
Zwei Stunden später traf er sich mit dem Vater, Johannes, auf der Frühgeborenenstation. Eine Krankenschwester füllte etwas Leitungswasser in einem kleinen Messbecher ab, er sprach seinen Segen darüber, dann öffnete sie eine Luke zum Brutkasten. Er tauchte den Zeigefinger in den Becher und berührte die Stirn des Jungen. Alle drei glaubten wahrzunehmen, dass Kilian sich bewegte, als er zum ersten Mal seinen Namen hörte. »Wir beten jetzt für dich, dass du leben kannst«, schloss der Pater und murmelte das Vaterunser.
Das Mädchen erblickte um 22.06 Uhr das Licht der Welt, es hatte noch sieben Stunden länger im Mutterleib ausgehalten. Seine Geburt vollzog sich rascher und problemloser als die von Kilian. Zuerst erschien eine weißlich schimmernde Blase, in der sich schemenhaft der Kopf abzeichnete. Das Mädchen wurde mit Glückshaube geboren – von seinen Eihäuten umgeben. Im Mittelalter galt das als gutes Omen, es hieß, diese Babys seien zu Geistesgröße und Großmütigkeit auserkoren. Und auch Repp war überzeugt, dass die Glückshaube dem Mädchen Glück bringen würde. Wie ein Airbag schützte sie seinen zarten Körper beim Durchtreten der Engstellen des Geburtskanals, es trug keine Blutergüsse davon wie sein Bruder.
Yvonne hatte die schwersten Stunden ihres Lebens hinter sich gebracht, Stunden, in denen sie glaubte zu sterben. Am Abend hatte sie hohes Fieber bekommen, sie schlotterte am ganzen Leib. Die Infektion ging vom Muttermund aus und drohte den Bauch und das Kind zu erfassen. Die Ärzte hatten ihren ursprünglichen Plan aufgegeben und die wehenhemmenden Mittel abgesetzt.
Um Mitternacht taufte Pater Raphael das Mädchen auf den Namen Frieda. Er hatte den Eindruck, sie sei schwächer und dünner als ihr Bruder.
Die Beatmungsmaschinen, zwei hohe Türme neben den Brutkästen, muteten unheimlich an und klangen auch nicht so, wie Yvonne es aus Filmen kannte. Kein regelmäßiges Rauschen und Klicken, eher ein gleichmäßig brummender Dieselmotor. Die kleinen Brustkörbe von Kilian und Frieda vibrierten, dass Yvonne schwindlig wurde.
Hochfrequenzbeatmung. Professor Repp hatte ihr erklärt, worin der Unterschied zu konventionellen Säuglingsbeatmungsgeräten bestand, wie sie auf den meisten Frühgeborenenstationen zum Einsatz kamen. Die Maschine pumpte nur kleine Mengen Luft in die Lungen, dafür aber um ein Vielfaches rascher, als ein Mensch atmen kann: 900 Stöße pro Minute. Dafür kam sie mit minimalen Druckdifferenzen aus und schonte so die unreifen Lungen der Kleinen – anders als konventionelle Beatmungsgeräte, deren hoher Druck die Lunge überblähte.
Repp zumindest glaubte daran, weil er selbst beobachtet hatte, wie gut sich die Lungen von Frühchen entwickelt hatten, seit er die Hochfrequenzbeatmung einsetzte. Aus demselben Grund mischte er neuerdings der Atemluft Stickstoffmonoxid bei – der Theorie nach sollte darunter die Lunge rascher reifen. Für beide Vorgehensweisen
Weitere Kostenlose Bücher