Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
fehlten große Studien, und er wusste, dass viele seiner Kollegen ihn dafür misstrauisch beäugten und manchmal auch offen kritisierten. Ihm blieb dann nichts anderes übrig, als auf seine guten Überlebensstatistiken hinzuweisen: »Irgendwie scheint es ja zu klappen.«
Frieda schlief fast den ganzen Tag. Kilian hatte immer die Augen offen. Was hatte das zu bedeuten?, fragte sich Yvonne. War Frieda zu schwach? Oder schonte sie ihren zerbrechlichen Körper, indem sie sich vor der Welt der Intensivstation zurückzog, fast so, als wäre sie noch im Mutterleib?
Und Kilian – was ging in seinem werdenden Gehirn vor? Wollte er so viele Eindrücke wie möglich von einer Welt erhaschen, auf der ihm vielleicht nicht viel Zeit vergönnt war? War er zu gestresst, um die Augen zu schließen? Hatte er Angst zu schlafen, weil er vielleicht nie wieder aufwachen würde? Die Krankenschwester beteuerte, weder Kilians Schlaflosigkeit noch Friedas Inaktivität müssten etwas bedeuten. Doch schon früh sagte Yvonne zu Johannes: »Kilian wird unser Sorgenkind.«
Der Weg ins Leben führt für extrem Frühgeborene durch einen Ozean voller unvorhersehbarer Gefahren. Nach 30 Jahren in der Neugeborenenmedizin kannte Reinald Repp immer noch nur einige der verborgenen Klippen, an denen er die Winzlinge besonders fest an die Hand nehmen musste. Er wusste, dass erst nach etwa drei Monaten gefahrlosere Gewässer erreicht sein würden.
Die erste Klippe erreichten Frieda und Kilian schon bald nach der Geburt: die Hirnblutung. Manche Frühgeborene erleiden sie in den ersten fünf Tagen, andere nicht. Warum, darüber gab es nur Theorien. Kilian bekam eine Hirnblutung des höchsten Schweregrads. Die Krankenschwestern montierten neben seinem Inkubator ein zweites Gestell, damit alle Perfusoren Platz hatten, über die elektronisch gesteuert Medikamente in sein Blut liefen. »Es muss nicht zwangsläufig zu Behinderungen führen«, versuchte Repp die Eltern zu trösten.
Frieda hatte Glück. Keine Blutung. Sorgen bereitete Repp aber, dass sie bei ihr noch keine Ader gefunden hatten, in die man Nadeln schieben konnte. Bei Kilian hatte er immerhin eine Fußvene entdeckt – ein kleines Wunder, denn die Hautvenen entwickeln sich normalerweise erst in der 24. Woche. Friedas Leben würde noch für viele Tage an der Nabelvene hängen. Falls die sich entzündete, könnte er keine Medikamente mehr verabreichen. Jeder noch so harmlose Keim konnte sie dann töten, denn sie hatte noch kein funktionierendes Immunsystem – Antibiotika mussten es ersetzen. Nieren und Lunge arbeiteten noch nicht richtig, ihr Blutdruck schwankte gefährlich, ihre Blutgerinnung versagte, sie verlor Salze aus dem Blut – für alles gab es Medikamente, doch all die Perfusoren gaben ihre Wirkstoffe in diese einzige Vene ab. Ein Rennen gegen die Zeit.
In den ersten Lebenswochen war Repp froh, wenn er den Halters abends sagen konnte: »Freuen wir uns, dass heute ein guter Tag war, wir wissen, dass noch vieles passieren kann.« Sie nahmen es dankbar auf. Er hatte das Gefühl, dass ihr Vertrauen grenzenlos war. Die Eltern der extrem Frühgeborenen waren oft anders – geduldiger und demütiger – als diejenigen Eltern, deren Babys kaum Probleme hatten, die jedoch voller Misstrauen jede ärztliche Entscheidung beäugten.
Repp fühlte sich frei zu tun, was er für richtig hielt, und es kam der Tag, an dem ihr Vertrauen eine entscheidende Rolle dafür spielte, dass er eine der gewagtesten Entscheidungen seines Lebens traf.
Ende November, Frieda war 20Tage alt, begann ihre Haut aufzuquellen, und sie legte rasant an Gewicht zu. Yvonne war verzweifelt: »Sie sieht aus wie ein Michelin-Männchen …« Repp hatte das Krankheitsbild nur einmal zuvor gesehen: das Kapillarlecksyndrom. In Friedas Körper waren die kleinsten Adern porös geworden, Flüssigkeit trat aus ihnen massiv ins Gewebe aus. Die Ursache der Krankheit war unbekannt, es gab nur 150 beschriebene Fälle. Friedas Haut war schließlich so gespannt, dass sie buchstäblich zu platzen drohte. Keine Therapie schlug an. An einem Freitagabend wusste Repp nur noch einen letzten Ausweg, bevor er alles verloren geben würde. Er rief die Halters zu Hause an, vor ihm lag der Beipackzettel eines Medikaments, das Adern abzudichten vermochte. Das Problem war nur: Es wurde ausdrücklich vor einem Therapieversuch beim Kapillarlecksyndrom gewarnt. Thrombosegefahr!
»Ich glaube aber, dass es trotzdem wirken kann. Und uns bleibt nicht
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