Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Frühgeborenen, die meisten von ihnen aber wurden nach der abgeschlossenen 23. Woche geboren – mindestens zehn Tage mehr im schützenden Mutterleib als Frieda und bis zu doppelt so schwer bei der Geburt. Wie hoch Friedas Wahrscheinlichkeit liegt, zumindest in einer der drei Kategorien schlecht abzuschneiden, will Yvonne sich gar nicht ausmalen; über Extremfälle wie ihren existieren keine Daten.
Heute wäre Frieda zwei Jahre und vier Tage alt, wenn sie zum errechneten Geburtstermin auf die Welt gekommen wäre. Ihr echtes Alter zählt drei Monate und 15 Tage mehr, aber für Kinderärzte ist das »korrigierte Alter« entscheidend für die Beurteilung des Entwicklungszustands.
Bei den regulären Vorsorgeuntersuchungen hat der Kinderarzt Friedas geistigen Zustand zuletzt mit »altersgerecht« bewertet, aber das bedeutet nicht viel, sondern gibt nur einen ungefähren Anhaltspunkt, weiß sie. Frieda hört gut, sie ist auf einem Auge kurz-, auf dem anderen weitsichtig, braucht aber keine Brille. Ihr größtes Problem: Mit 79 Zentimetern und 8,3 Kilogramm wiegt Frieda weniger und ist kleiner als 97 Prozent ihrer Altersgenossen. Extrem kleine Frühgeborene sind fast immer untergewichtig. Über die Gründe gibt es nur Vermutungen. Feten ernähren sich, indem sie täglich große Mengen Fruchtwasser trinken. Frühgeborene werden per Magensonde ernährt. Sie lernen erst mit Verzögerung, dass es eine Beziehung zwischen Hunger, Geschmack und der Stillung des Bedarfs an wichtigen Nährstoffen gibt. Außerdem ist der Darm von Feten bis zur Geburt steril, wohingegen der Darm von Frühgeborenen zu früh von Bakterien besiedelt wird.
Frieda liebt Kalorienbomben, fettige Pommes frites und Schokolade, doch sie isst so wenig, dass es nicht zum Zunehmen reicht. Ein Trost ist für Yvonne die Aussage ihres Kinderarztes, dass sich die Essstörung bei den meisten Frühgeborenen bis zum vierten Lebensjahr »auswächst«.
Wo bleibt nur der Arzt? Um halb zehn war Termin, jetzt ist es kurz vor zehn. In spätestens zwei Stunden wird Frieda müde werden, heute wegen der schlechten Nacht vielleicht noch früher. Endlich taucht er auf, ein großgewachsener schlanker Mann um die fünfzig mit Designerbrille, wenigen grauen Stoppelhaaren. Es ist Dr. Isselstein, der Mann, der Kilian und Frieda im ersten Versuch intubiert hat, dessen ruhiger Hand das Mädchen sein Leben verdankt. Er hat zunächst nur Augen für sie, spricht mit ihr, strahlt sie über das ganze Gesicht an. Sie lächelt zurück, gibt ihm das Händchen.
»Zeig mir doch mal, wo deine Nase ist«, fragt er. Frieda kann alles korrekt zuordnen, auch Mamas Lippen und seinen Bauch – versteht also die Bedeutung von »mein« und »dein«. Die Spannung ihrer Muskeln ist normal, keine Spastik, sie kann auf einem Bein stehen und rennen, auch wenn es »etwas tapsig« aussieht, wie Isselstein meint. »Aber das kann sie noch leicht aufholen«, beeilt er sich zu sagen, als er die Sorgenfalte auf Yvonnes Stirn bemerkt. Friedas Körpergröße solle sie in den kommenden zwei Jahren im Blick behalten, meint er. »Damit wir rechtzeitig abpassen, ob sie Wachstumshormone braucht. Nicht dass sie später nur die eins vierzig erreicht und Ihnen Vorwürfe macht.« Nach 20 Minuten sein Fazit: leichte Entwicklungsverzögerungen im motorischen Bereich, mit Ergotherapie und Turnen noch gut aufholbar.
Beatrice Ruppel ist Erzieherin und zuständig für die psychologischen Tests. Frieda soll geometrische Bausteine in die dazu passenden Formen legen, Türme aus Bauklötzchen bauen, auf Zeichnungen Gegenstände benennen. Als sie einen Frosch als »Losch« bezeichnet, dann aber auch der Käse »Losch« heißt, wird die Mutter nervös: »Das kennst du doch schon, Frieda, isst du doch so gern.« Das Wort »Auto« kennt sie, aber immer wenn sie das Bild vorgelegt bekommt, sagt sie »Brrm Brrm« oder »Tatütatü«.
»Kann sie schon Zwei-Wort-Sätze?«, fragt die Erzieherin. »Auch Drei-Wort-Sätze, seit Weihnachten schon.« Erstaunt hebt Ruppel die Augenbrauen. Während die Untersuchung fortschreitet, brabbelt Frieda in einem fort. Jedes neue Wort lässt sie sich von der Mutter »übersetzen«, notiert es auf einem Extrazettel, am Ende sind 50 zusammengekommen. »Also verbal ist sie sehr weit!«
Für Yvonne ist schwer zu erkennen, wie sich Frieda schlägt. Manche Tests wiederholt die Erzieherin viele Male, stoppt die Zeit und scheint immer noch nicht zufrieden. Unablässig notiert sie die Ergebnisse in einer
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