Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
wolle sie an die Uniklinik Gießen bringen, wo eine Professorin für Augenheilkunde Neugeborenen ein Mittel ins Auge injiziere, das eigentlich aus der Krebstherapie stamme, aber auch das Einwachsen von Adern in die Netzhaut verhindern könne. Die Methode sei gefahrloser und effektiver, aber eben noch im Stadium des Therapieversuchs, kein etabliertes Verfahren. Eine einzige Injektion reiche aus. Ob sie Bedenkzeit wollten?
Die Halters wechselten nur einen kurzen Blick. Sie hatten schon so oft ja zu Maßnahmen gesagt, die Repp vorgeschlagen hatte. Nie waren sie der Versuchung erlegen, im Internet zu recherchieren, ob er recht hatte, ob es Alternativen gab, ob eine zweite Meinung sinnvoll wäre. Sie wollten nicht immer wissen, was alles passieren könnte. Warum also sollten sie sich jetzt Bedenkzeit ausbitten?
Und so fuhr am 1. Februar 2011 ein Krankentransport nach Gießen, hinten Frieda in ihrem Inkubator und neben ihr: Chefarzt Reinald Repp persönlich. Er hatte sich verschiedene Gründe zurechtgelegt, warum es unbedingt nötig sei, dass nicht ein Assistenzarzt, sondern er selbst die vorgeschriebene ärztliche Begleitung übernahm.
Zum einen wollte er das Prozedere in der Augenklinik selbst in Augenschein nehmen. Auch hielt Repp generell nicht viel von Anästhesisten, wenn es um Narkosen von Frühgeborenen ging. Er hatte deshalb schon öfter Streit riskiert. Frieda in einer fremden Klinik irgendeinem Anästhesisten überlassen, das konnte er nicht zulassen – er selbst würde die Narkose machen und überwachen! Auch wenn das versicherungsrechtlich in einer Grauzone lag, schließlich war er kein Angestellter der Universitätsklinik.
Es könnte aber auch sein, gab er später zu, dass Frieda mittlerweile sein Augenstern war. Dass er stolz war, dass sie es schon so weit gebracht hatte. Dass es ihm schwergefallen wäre, sie für so viele Stunden in einer fremden Welt, weitab von seinem Verantwortungsbereich, allein zu lassen.
Sie hat blaue Augen, die unablässig die Welt erforschen. Wer Frieda zum ersten Mal sieht, wundert sich über den durchdringenden Blick, mit dem sie ihr Gegenüber mustert – um dann zu lächeln und die Hand auszustrecken. Der Blick unterscheidet Frieda von den meisten Altersgenossen, außerdem die Tatsache, dass sie fast nie weint oder schreit. Vielleicht erscheinen ihr die Wehwehchen, die das normale Säuglingsleben mit sich bringt, zu banal gegenüber den Qualen, die sie schon erfahren hat.
Ihre Eltern können immer noch kaum fassen, wie viel Glück sie mit Frieda haben. Fast scheint es ihnen, als wolle das Mädchen mit seinem sonnigen Wesen das ganze Leid vergessen machen.
19. März 2013, Frühlingsanfang. Weite Teile Deutschlands liegen seit Wochen unter einer dicken Schneedecke. Der Winter hat sich festgekrallt, ein eiskalter Wind fegt durch die Straßen. Frieda hat eine frische Erkältung, ihre Nase läuft unablässig. Sie hat schlecht geschlafen und ist früh aufgewacht. Auf dem Weg ins Krankenhaus fragt sich Yvonne unablässig, ob die entscheidende Untersuchung ausgerechnet heute stattfinden sollte – die Untersuchung, in der Friedas Intelligenz und ihre neurologische Entwicklung vermessen werden. Zwei Stunden soll sie dauern, und am Ende wird eine Zahl stehen: der EQ, Entwicklungsquotient. Er soll vorhersagen, wie Frieda für das Leben gerüstet ist. Welche Hürden wird sie nehmen, an welchen könnte sie scheitern? Wird sie jemals lesen lernen? Kommt sie in eine Grundschule oder Förderschule? Wird sie später einen Beruf erlernen, oder wird sie eine Behindertenwerkstatt besuchen? All das sind Fragen, mit denen sich Yvonne seit zwei Jahren quält, heute wird sie Antworten bekommen.
Aus einer medizinischen Broschüre kennt sie Zahlen: Die Vorhersagekraft der Testbatterie Bayley II beträgt etwa 80 Prozent. Wenn »deutliche Entwicklungsprobleme« festgestellt werden, müsse mit einer »dauerhaften Beeinträchtigung der intellektuellen Fähigkeiten« gerechnet werden. US-Forscher entdeckten, dass die Langzeitfolgen von »extrem kleinen Frühgeburten« – denjenigen, die mit weniger als 1000 Gramm Geburtsgewicht zur Welt kamen – stark von Krankenhaus zu Krankenhaus variieren. Neurologische Auffälligkeiten wie Spastiken oder Muskelzittern: 25 bis 56 Prozent. Schwere psychomotorische Auffälligkeiten wie spätes Laufenlernen, gestörte Feinmotorik: 24 bis 44 Prozent. Schwere Intelligenzminderung: 17 bis 62 Prozent. Diese Zahlen gelten pauschal für alle extrem kleinen
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