Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Skala, auf der links die Zahl der Monate steht, zu denen Kinder imstande sein sollten, die jeweiligen Aufgaben zu lösen. »N« für nein, »J« für ja. Sechs Bauklötzchen zu stapeln ist Minimum, Frieda schafft nur fünf: »N«, gnadenlos! Nach eineinhalb Stunden aber bricht Frieda ein.
»Sie hatte so eine schlechte Nacht …«
»Nicht schlimm, das reicht mir schon …«
Kurzes Schweigen, Frau Brunner vollendet ihre Notizen, Frieda versucht sich immer noch an dem Turm aus Bauklötzen.
»Und was denken Sie?«
Die Erzieherin blickt auf, strahlt: »Einfach klasse! Es ist ein Wunder.«
Reinald Repp weiß, dass er Glück mit Frieda hatte. Ihr EQ ist hoch, Frieda liegt im oberen Drittel aller Kinder im gleichen Alter, inklusive der regelrecht Geborenen. Soweit er es jetzt beurteilen kann, werden ihr alle Türen des Lebens offenstehen, vielleicht könnte sie sogar das Gymnasium und Abitur schaffen. Wenn ihr nicht eine andere, sehr häufige Spätfolge der Frühgeburt noch dazwischenkommt – ADHS, Aufmerksamkeitsdefizitstörung. Zwar erzählt die Mutter, dass Frieda wenig ablenkbar sei und sich stundenlang mit sich selbst beschäftigen könne. Doch ob das schon bedeutet, dass sie kein ADHS entwickeln wird, vermag niemand vorherzusagen.
Die Zeitungen feierten Frieda als »jüngstes Frühgeborenes Europas«. Nur einmal, 1987, war in Kanada ein gleich alter Junge zur Welt gekommen. Jedoch zweifelt Repp, ob das stimmen kann, denn damals war die Technik weltweit noch nicht gerüstet für so junge Frühchen, und eine Fachpublikation fehlt. Es gibt nur Zeitungsberichte und einen Eintrag im Guinness-Buch der Rekorde.
Repp ist nicht stolz auf den »Rekord«, das Wort findet er unangebracht angesichts der Dramatik extremer Frühgeburten. Aber er ist erleichtert, dass alles so gut abgelaufen ist. Trotz dieses Erfolgs haben ihn immer noch genug Fachkollegen auf den Kongressen angegriffen oder in Interviews gesagt, er hätte Friedas Überleben auf keinen Fall zulassen dürfen. Das Mädchen werde sein Leben lang behindert sein. Er hätte eine Grenze überschritten, die die Ärzte nicht überschreiten sollten. Technik mache heute Unmögliches möglich, die Leidtragenden seien später die Eltern und Kinder. Repp aber fand, er hätte nicht anders handeln können, die Halters hatten ihren Willen zu klar kundgetan.
Er wusste auch: Wenn Frieda eine der vielen Abzweigungen in Richtung Tod genommen hätte, so wie Kilian, stünde er für alle am Pranger. Nur das Ergebnis zählte, es war wie bei einem Fußballspiel: Eine Mannschaft kann 90 Minuten hervorragend spielen, aber ein einziges Tor kann den Sieg zugunsten des Gegners entscheiden – und wenn es fällt, wird alles andere auch kritisiert. Jetzt aber war Frieda ein schlagender Beweis für das, woran er immer schon geglaubt hatte: dass sich die Ärzte nicht nur von Zahlen leiten lassen dürfen, egal ob Schwangerschaftswochen und -tage oder aber das Geburtsgewicht. Und dass es richtig war, im Grenzland des Lebens, wo einem keine Studie den Weg weist, auch Therapien zu versuchen, für die es noch keine Evidenz gibt. Beweise würde es auch in den kommenden Jahren nicht geben, dazu reichten die Fallzahlen von extrem Frühgeborenen nicht aus.
Repp würde sich weiter auf seine Erfahrung verlassen müssen, wenn es um die Frage ginge, wann es sich lohnte zu kämpfen und wann die Zeit für einen Abschied gekommen war.
Yvonne will jetzt lernen, Frieda loszulassen. Bisher hat sie ihr Töchterchen nur wenigen Menschen anvertraut – ihren Eltern, Johannes’ Mutter, Friedas Patentante. Doch immer wächst ihre Angst nach wenigen Stunden ins Unermessliche, kriecht ihr in die Brust und den Bauch. Es ist die Angst, dass Frieda sterben könnte. Seit zweieinhalb Jahren ist diese Angst nicht von ihr gewichen. Eine Erkältung Friedas, ein leichter Husten reichen schon aus, um sie aufflammen zu lassen.
Die Tagesmutter haben Yvonne und Johannes schon ausgesucht. Sie ist selbst Mutter, 32 Jahre alt. Frieda war zweimal für eine Stunde dort, probeweise. Sie versteht sich gut mit der Frau.
Am 20. März 2013, nur einen Tag nach der Bayley-II-Untersuchung, beginnt nun ein neuer Lebensabschnitt für Frieda und Yvonne. Fünf Stunden täglich, Montag bis Freitag, soll das Mädchen bei der Tagesmutter verbringen. In der ersten Woche bleibt Yvonne noch dabei. Am dritten Tag verlässt sie die Wohnung der Tagesmutter für eine halbe Stunde. Für Frieda ist das in Ordnung – sie scheint darauf zu
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