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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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wirklich eine Alternative. Außer aufgeben«, sagte er. Die Eltern waren einverstanden. Das Medikament wirkte fast sofort. Frieda war gerettet.

    Für Reinald Repp gab es zwei Situationen, vor denen er immer Angst hatte: Ein Kind entwickelte sich in Richtung Sterben, und er erkannte es nicht rechtzeitig. Oder ein Kind entwickelte sich in Richtung Leben, aber ein Leben mit schwersten Behinderungen, blind, taub, gelähmt – ein Leben, das die eigenen Eltern ihrem Kind und sich selbst vielleicht nicht zumuten wollen würden.
    Der Wendepunkt für Kilian kam am 29. November, er war 22 Tage alt. Von außen war wenig zu sehen: Sein Bauch war überbläht, es kam kein Stuhlgang. Als die Kinderchirurgen ihn drei Tage später operierten, entdeckten sie, dass Teile des Dickdarms abgestorben waren und sich Löcher gebildet hatten, durch die Stuhl in die Bauchhöhle ausgetreten war. Der ganze Bauch hatte sich entzündet. Es war eine der gefürchteten Komplikationen bei Frühgeborenen, ausgelöst durch Bakterien. Kilian erholte sich nicht mehr nach dem Eingriff, es kamen weitere Probleme hinzu. Sein Blut übersäuerte gefährlich. Die Ärzte versuchten mit Pufferlösung gegenzusteuern, aber so viel sie auch gaben, es reichte nicht. Ein Oberarzt versuchte, den Eltern klarzumachen, wie es um ihren Sohn stand: »Kilian wird diese Klinik nicht lebend verlassen.«
    Am späten Nachmittag des 18. Dezember brach Yvonne weinend vor einer Krankenschwester zusammen: »Wann hat es unser Kilian denn endlich geschafft?« Es war das Signal, auf das sie in der Klinik seit Tagen gewartet hatten. Reinald Repp kam. Pater Raphael kam. Sie besprachen das Nötige. Dann stellte Repp die Zufuhr des Säurepuffers ab. Yvonne durfte Kilian in den Arm nehmen. Die Krankenschwester knipste die Lichtschalter im großen Raum der Intensivstation aus, wo neben Kilian noch fünf andere Frühchen in ihren Inkubatoren lagen. Frieda schlief. Nur noch die Kreislaufmonitoren und Warnleuchten der Perfusoren spendeten ein spärliches Licht im dunklen Raum. Normalerweise piepte immer irgendwo ein Alarm, doch jetzt war es lange still. Yvonne hatte das Gefühl, dass sich all die kleinen Seelen von Kilian verabschiedeten.
    Sie blickte auf den Christbaum vor dem Fenster, dessen Zweige sich unter der schweren Schneelast bogen. Weihnachten wären sie nur noch zu dritt. Repp war bei ihnen geblieben. Als der Monitor schon lange eine Nulllinie zeigte, erhob sich Johannes, trat zum Chefarzt, reichte ihm die Hand: »Sie haben alles getan. Danke!« Was war das? Der Angehörige tröstet den Arzt? Repp wollte nicht, dass sie sahen, dass er Angst hatte. Angst, auch Frieda zu verlieren. Sie hatte die gleiche Darmentzündung wie Kilian.

    An einem Vormittag Ende Dezember besuchte Pater Raphael Frieda wie schon öfter in den vergangenen Tagen. Die Halters waren nicht da, nur eine Krankenschwester hantierte am Inkubator. Er blieb im Türrahmen stehen. Plötzlich stieß sie einen Jubelschrei aus und riss den freien Arm nach oben. Er trat näher, da hielt sie ihm vor die Nase, was sie so freute. Eine Windel, darin die gelblichen Spuren von Stuhlgang. Friedas Darmentzündung sei im Abklingen, erfuhr er und freute sich mit ihr.
    Ab da nahm Frieda täglich neue Hürden. Sie entwickelte sich in Richtung Leben. Als Yvonne und Johannes am 4. Januar 2011 in die Klinik kamen, nahm die Krankenschwester, die mittlerweile fast zu einer Freundin geworden war, sie beiseite und flüsterte verschwörerisch: »Wissen Sie, was heute für ein Tag ist? Heute wollen wir versuchen, Frieda zu extubieren!« Yvonne freute sich und hatte Angst zugleich. Sie wollte nicht zusehen. Die beiden fuhren nach Würzburg zum Shoppen, suchten ein Paar Sportschühchen für Frieda aus, kauften es dann aber nicht – wer wusste schon, ob sie jemals Schuhe brauchen würde. Doch als sie zurück ins Krankenhaus kamen, hatte Frieda nur noch zwei Schläuche in der Nase, atmete aus eigenem Antrieb, eine Maschine unterstützte sie.

    Der US-Popsänger Stevie Wonder ist blind, weil er zu früh geboren wurde. Damals, im Jahr 1950, kannten die Ärzte noch kein Mittel gegen die drohende Netzhauterkrankung der Frühgeborenen. Heute werden die davon betroffenen Kinder etwa zehn Wochen nach der Geburt mit Augenlaser behandelt. Die Strahlen verhindern, dass Adern in die Netzhaut hineinwachsen und diese zerstören. Dabei aber richten sie auch Schaden an.
    Deshalb habe er, Repp, mit Frieda etwas Besseres vor, erklärte er den Halters. Er

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