Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
vertrauen, dass die Mutter wiederkehren wird. Ein Zeichen für eine gute Mutter-Kind-Bindung, die vorübergehende Trennungen aushalten wird.
In den folgenden Monaten wird Yvonne jederzeit erreichbar sein, kann vorbeikommen, falls sich Frieda nicht eingewöhnt. Falls das Experiment gelingt, will Yvonne wieder anfangen zu arbeiten. Es ist an der Zeit, zu einem normalen Leben zurückzukehren, findet sie.
Yvonne und Johannes wollen noch ein zweites Kind – beziehungsweise »ein drittes«, denn Kilian zählt mit. Auch wenn das Risiko für eine weitere Frühgeburt nach der ersten erhöht ist, haben sie es erneut mit künstlicher Befruchtung versucht. Doch Yvonne vertrug die Hormone noch schlechter als zuvor. Nur einmal gelang die Implantation, doch die Frucht ging innerhalb von wenigen Tagen ab. Jetzt pausieren sie, überlegen, wie es weitergehen soll. Frieda soll auf keinen Fall allein bleiben, ein adoptiertes Geschwisterchen könnten sich Yvonne und Johannes auch vorstellen.
Ihr Bauernhaus steht zum Verkauf. Hier werden sie nie aufhören, an Kilian zu denken. Eine Holzkiste im Wohnzimmer trägt seinen Namen, ein Geschenk der Klinik. Sein erstes Mützchen, an dem die Atemmaske befestigt war. Ein Paar Schühchen aus Wolle, gestrickt von einer Freundin, Yvonnes Daumen passt hinein. Kilian hat sie nie getragen. Eine CD mit Fotos, aufgenommen nach seinem Tod, ohne Schläuche, ohne Maske – sie haben nur ein Bild davon angeschaut, er sah anders aus. Es war nicht mehr ihr Kilian.
Eine Postkarte, darauf ein Gedicht:
Wenn du bei Nacht
den Himmel anschaust,
Wird es dir sein,
als lachten alle Sterne,
weil ich auf einem von ihnen wohne,
weil ich auf einem von ihnen lache.
Du allein wirst Sterne haben,
die lachen können!
Schmerz
»Wir praktizieren alles außer Exorzismus.«
Dr. Gerhard Müller-Schwefe, Präsident der Deutschen Gesellschaft für Schmerztherapie
U te Köhler lebte in einem 600-Seelen-Dorf im Thüringer Wald. Hier sah alles fast noch so aus wie vor der Wende, steile Straßen mit löchrigem Belag, Häuser mit Fassaden aus schwarzem Schiefer, viele waren seit Jahren verlassen. Die zwei großen Hotels am Ort kämpften ums Überleben, weil nach der Wende die Touristen ausblieben.
Ihren Mann hatte sie 1973 auf einem Tanzabend im Dorf kennengelernt, die Kapelle spielte West-Schlager. Drei Jahre später heirateten die beiden und bekamen zwei Söhne. Er war Heizungsinstallateur in dritter Generation und hatte seinen Familienbetrieb über alle Enteignungswellen der DDR gerettet. Seine Familie war stolz darauf, damals waren selbständige Handwerker etwas Besonderes. Ute Köhler, gelernte Kantinenköchin und aus einfachen Verhältnissen stammend, hatte es schwergehabt, den anspruchsvollen Schwiegereltern zu genügen. Vor allem, als sie 1985, gerade 31 Jahre alt, krank wurde, bald ganze Tage im Bett verbrachte und ihren Pflichten als »mithelfende Ehefrau« im Betrieb nur schlecht nachkam.
Drogen waren in dem Dorf, wo jeder jeden kannte, früher nie ein Thema gewesen – wegen der strengen Grenzkontrollen waren sie im ganzen Land kaum zu kriegen. Dass ausgerechnet Ute Köhler mit dem Thema zu tun bekommen würde, hätte sie sich früher ebenso wenig vorstellen können wie ihr Arzt Robert Haag, der 30 Kilometer entfernt im örtlichen Krankenhaus einer Kleinstadt arbeitete und schon auf die sechzig zuging.
Während die 68er Generation im Westen die Legalisierung aller Drogen forderte, in Kommunen lebte und freie Liebe praktizierte, war er Regimentsarzt im Dienst der Nationalen Volksarmee, heiratete eine Kommilitonin, in die er sich schon im ersten Semester verliebt hatte, wurde Vater und ließ sich an einem akademischen Lehrkrankenhaus in Thüringen zum Anästhesisten ausbilden. Bis zur Wende blieb er, dann gab er die Hoffnung auf, dort Karriere zu machen. Ärzte aus dem Westen übernahmen die Führungspositionen und holten ihre Leute nach. Jeder hatte Angst um seinen Job. Haag war zwar nicht Mitglied der Partei gewesen, sondern bekennender Katholik, aber auch er rang um eine neue Perspektive. Er entdeckte die »spezielle Schmerztherapie«, ein Fachgebiet, das es in der DDR nie gegeben hatte und das auch im Westen erst 1996 den offiziellen Status einer »Zusatzbezeichnung« für Fachärzte erhielt. Thüringen war Notstandsgebiet; soweit er wusste, gab es im ganzen Freistaat noch keine Schmerztherapeuten. Als er seine Kurse absolviert hatte, ging er in eine Kleinstadt, wurde dort Chefarzt für Anästhesie
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