Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
sich Wettrennen mit dem Schulbus bergauf und machte lange Radtouren mit Freunden. Wenn sie anhielten, stützte er sich auf den Lenker wie auf Krücken. So vergaß er gelegentlich für ganze Nachmittage seine Behinderung. Er lachte mehr als früher, die Mutter spürte, wie er Selbstbewusstsein gewann.
Doch dann kam der Tag, an dem sie durch die Schuhgeschäfte zogen und kein Paar mehr fanden, in das er seine Füße zwängen konnte. Die Gelenkschmerzen wurden schlimmer, auch in den Hüften, die durch die Fehlstellung in Mitleidenschaft gezogen worden waren. Er wurde am Becken operiert und bekam sein erstes Paar Schuhe vom Orthopädieschuster: unförmige Eimer aus schwarzem Glattleder mit glänzenden Metallösen – äußeres Stigma seiner Behinderung. Er verabscheute sie, gleichzeitig brauchte er sie. Sogar nachts musste er sie schnüren, um auf die Toilette zu gehen. Zu jener Zeit konnte er schon lange nicht mehr barfuß stehen, geschweige denn gehen.
Es war die Zeit, in der seine Klassenkameraden ihren Status an der Markenkleidung maßen und abends in Discotheken gingen. Thorsten stand mit einem Glas Cola am Rand der Tanzfläche und sah zu, wie Mädchen und Jungen bei den langsamen Liedern wie von selbst zueinanderfanden, sich eng umschlangen und später Hand in Hand nach draußen gingen. Diese Welt würde ihm verschlossen bleiben, glaubte er. Mädchen unterhielten sich gerne mit ihm, er brachte sie zum Lachen, aber Gedanken, die weiterführten, verbot er sich, und nie spürte er, dass eine Interesse hatte.
Nach der mittleren Reife lernte er Industriekaufmann, doch die Arbeit langweilte ihn bald, und er bewarb sich bei einem Reiseveranstalter. Dort fand er seine Bestimmung: die Welt zu entdecken, solange ihn seine Füße noch trugen.
Thorsten verstand es, seine Behinderung zu verbergen – die orthopädischen Schuhe gaben ihm stabilen Halt, er versteckte sie unter weiten Cordhosen, deren Hosenbeine fast bis zum Boden reichten. Niemand fragte ihn, warum er beim Gehen schwankte. Er hatte kaufmännisches Geschick, überzeugendes Auftreten, eine schöne Stimme und markante, südländisch anmutende Gesichtszüge. Schnell machte er Karriere, avancierte zum »Produktmanager für Leser- und Hörfunkreisen« und flog nach Spanien, Brasilien und Kanada, besichtigte Hotels und stellte Reisepakete zusammen. Damals bewältigte er die Gehstrecken vom Flugzeug zum Taxi und von dort zum Hotel noch ohne Probleme.
Als Mitte der Neunziger das Internet immer wichtiger wurde, sicherte er sich früh wertvolle Domainnamen wie irland.de , machte sich selbständig und vermarktete von nun an Länder- und Infoportale. Er strahlte innere Ruhe, Selbstbewusstsein und Begeisterungsfähigkeit aus, die Frauen begannen sich für ihn zu interessieren.
Ewa studierte Klavier am Konservatorium in Warschau und war für ein Au-pair-Jahr nach Deutschland gekommen. Sie hatte rötlich gefärbte Haare und trug einen schwarzen Blazer aus Seide. Als Thorsten sie in einem Biergarten kennenlernte, hatte sich gerade nach nur einem Jahr die Frau von ihm getrennt, die er seine erste große Liebe nannte. Sie brauche einen Mann, mit dem sie Sport treiben könne, hatte sie ihm erklärt. Er war im Innersten getroffen, zum ersten Mal seit langer Zeit hatte ihm jemand seine Grenzen so deutlich aufgezeigt. Ewa kam aus einer ihm fremden Welt, hatte Schauspieler und Künstler zu Freunden, sie faszinierte ihn. Ein Wort gab das andere, bald existierten die Menschen um sie herum nicht mehr. Als sie viel später einmal gefragt wurde, was sie am Anfang am meisten fasziniert habe, sagte sie, sie habe gespürt, dass sie beide am gleichen Punkt im Leben waren. Er wollte die Grenzen überschreiten, die ihm sein Körper auferlegte, sie die Grenzen, die ihr der Eiserne Vorhang gesetzt hatte. Sie habe gespürt, dass sie mit ihm ihre Träume verwirklichen könnte – und dass seine Füße kein Hindernis wären.
Thorsten hielt, was er versprach. Sie kauften sich ein Traumhaus in den sanften Hügeln nahe der Mosel, ein Pferd, Hängebauchschweine und Hühner, sie zogen Salat auf dem Acker und aßen Tomaten aus dem eigenen Gewächshaus. Einige Jahre später schafften sie sich ein Wohnmobil an und reisten ein ganzes Jahr quer durch Europa. Wenn Ewa klettern oder schwimmen wollte, machte sie es alleine, er saß derweil am Campingtisch und managte sein Büro per Handy und Laptop. Für das Haus hatte er einen Untermieter gefunden, der die Tiere versorgte. Ihm schien alles zu
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