Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
Sie kannte ihn kaum, er kam nur wenige Wochen im Jahr zu Besuch. Als Gül fünf Jahre alt war, holte er seine Familie nach Neuss im Rheinland.
Die Dreizimmerwohnung, in der sie zu sechst wohnten, lag im fünften Stock eines gesichtslosen Sechziger-Jahre-Wohnblocks. Vom Fenster des Kinderzimmers blickten sie auf einen Spielplatz, der Himmel darüber war fast immer grau. Eines Tages klingelte jemand an der Tür, und ihre Tante schien plötzlich nervös, sie erwartete keinen Besuch. Sie zerrte Gül an der Hand ins Schlafzimmer, steckte sie in den Kleiderschrank und schloss eilig die Tür. Im Dunkel sitzend hörte Gül Männerstimmen, sie kamen näher und entfernten sich wieder, Gül verstand kein Wort in der fremden Sprache.
Als sie sechs war, erklärte ihr die Tante beim Abendbrot, dass sie zurück in die Türkei müsse. Gül weinte und schrie, es half nichts. Erst später verstand sie, dass es daran lag, dass sie nie adoptiert worden war. Die Ausländerbehörde hatte eine Frist von 14 Tagen gesetzt, sonst wäre Gül ausgewiesen worden. Zum Abschied schenkten ihr die Nachbarn einen rosa Schulranzen, vollgepackt mit Federmäppchen, Wachsmalkreiden, Heften und Blöcken – das Einzige, was ihr aus Deutschland blieb.
Es begannen Jahre der Heimatlosigkeit. Zuerst lebte sie in ihrem früheren Dorf, bei der Familie der Verlobten ihres großen Cousins. Er kam bald aus Deutschland nach und heiratete. Mit der Frau verstand sie sich nicht, sie stritten oft. Als sie zehn war, ließ er sich scheiden, und sie kam zu ihrer Großmutter – der Mutter ihrer verstorbenen Mutter. Die alte Frau bekam monatlich Geld von Güls Tante aus Deutschland geschickt, doch sie gab es lieber für ihre anderen Enkel aus, die mit einem Onkel und seiner Frau auf dem Hof lebten. Gül bekam die abgelegten Kleider und das Brot vom Vortag, sie war zuständig für das Putzen und sonstige Drecksarbeiten. Eine junge Frau, die mit im Haus lebte, badete sie zweimal wöchentlich im Metallzuber, hörte ihr zu, tröstete und streichelte sie, wenn Gül sich ins ferne Deutschland zu ihrer Familie wünschte.
Eines Tages, Gül war 13 Jahre alt, kam der Großmutter Geld abhanden. Sie nahm es zum Anlass, ihre ungeliebte Enkelin des Diebstahls zu bezichtigen. Gül saß dabei, als sie zur Tante am Telefon sagte: »Ich möchte dieses Kind nicht mehr.«
An dem Tag, als Gül ins Heim musste, nahm die junge Frau, die sich immer um sie gekümmert hatte, sie in den Arm. Von ihr erfuhr Gül, dass ihre leibliche Mutter sich umgebracht hatte. Dass ihr Vater sie verstoßen und neu geheiratet hatte. Dass sie beide leibliche Schwestern seien.
Sie sollten sich nie wiedersehen.
Das Gesicht bewahren, das Gesicht verlieren – Redensarten, die eine Ahnung davon geben, welch elementare soziale Bedeutung dem Gesicht zukommt. Statt »Gesicht« könnte das Wort »Ehre« stehen. Das Gesicht ist der zentrale Ausdruck allen menschlichen Seins, in ihm glauben wir die Persönlichkeit eines Menschen zu erkennen. Die Augen gelten als Spiegel der Seele, dabei interpretieren wir in Wirklichkeit das komplexe Zusammenspiel der feinen Muskeln, die die Augen umgeben.
Lange bevor Babys sprechen können, vermögen sie Gesichter zu deuten und so Kontakt mit ihren Eltern aufzunehmen. Im Alter von vier Monaten lächeln sie zurück, wenn die Mutter sie anlächelt. Die ersten Zeichnungen von Kleinkindern stellen »Kopffüßler« dar, der Rest des menschlichen Körpers scheint ihnen nicht wichtig.
Das Gesicht verfügt über 26 Muskeln, acht davon steuern die Mimik, über die Menschen einander willentlich oder unwillentlich ihr Gefühlsleben mitteilen. Sie liegen nur wenige Millimeter unter der Haut, kräuseln und spannen sie, heben oder senken die Mundwinkel, weiten oder verengen die Augen, runzeln die Stirn.
Der Gesichtsausdruck ist für die Kommunikation wichtiger als Worte, aus ihm interpretieren wir, wie das Gesagte zu deuten ist. Die Mimik ermöglicht eine Basisverständigung auf der ganzen Welt. Eine Türkin zum Beispiel, die kein Wort Deutsch spricht, könnte hierzulande über ihr Gesicht trotzdem ausdrücken, welche der sieben universellen Gefühlsregungen sie gerade empfindet: Angst, Traurigkeit, Freude, Ekel, Ärger, Überraschung und Verachtung. Es gibt auch eine Landessprache der Mimik: Das Hochziehen der Augenbrauen zum Beispiel würde in Deutschland als Ausdruck des Erstaunens oder Unglaubens interpretiert, in der Türkei hingegen bedeutet es »nein«.
Im Jahr 1872 postulierte der
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