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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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und das, obwohl sie die Grippe in einem Fragebogen als weitaus gefährlicher einstuften.
    Die Realität spiegelt das Versuchsergebnis wider. Denn anderen Studien zufolge setzen sich Fahrgäste im Bus weiter weg von Menschen mit entstellten Gesichtern und bieten ihnen seltener ihre Hilfe an als Unversehrten.
    Ekel sei die Triebfeder für diese Vermeidungsstrategien, glaubt die Verhaltensforscherin Valerie Curtis von der London School of Hygiene and Tropical Medicine, und verweist darauf, dass dieses Verhalten evolutionär betrachtet sinnvoll erscheint: »Das Gefühl Angst entwickelte sich, um uns fernzuhalten von großen Tieren, die uns von außen her auffressen wollen. Das Gefühl Ekel entwickelte sich, um uns vor kleineren Tieren zu schützen, die uns von innen her töten wollen.«

    Bald hielten nur noch wenige Freundinnen zu Gül. Die Heimbetreuerinnen riefen »Bleib uns fern!«, wenn sie sich näherte. Gül bekam ihren eigenen Teller und eigenes Besteck, sie aß allein an einem Tisch abseits. In früheren Zeiten hätte sie ihr Gesicht mit einem Kopftuch verhüllen können, doch Kopftücher waren in der nunmehr laizistischen Türkei verboten. Gül musste ihre Schuluniform tragen wie jedes andere Mädchen auch, schwarzes Röckchen, weißer Kragen.
    Im Dezember 1990, eineinhalb Jahre nach Krankheitsbeginn, brachte sie eine Betreuerin in die städtische Uniklinik in die Dermatologie.
    Sie wurde in ein Einzelzimmer gelegt, Schwestern und Ärzte betraten es nur mit Mundschutz und Gummihandschuhen. Anfangs kamen sie noch oft, entnahmen ihr Hautproben und Blut. Gül erfuhr, dass sie eine sehr seltene Sonderform der Tuberkulose vermuteten, bei der die Bakterien die Haut infizieren. Die Therapie sei langwierig, sie müsse über viele Monate mehrere Antibiotika zu sich nehmen.
    Die Hautveränderungen hatten sich mittlerweile über die linke Wange zum Mund ausgebreitet, sie fraßen sich tief in die Haut und lösten sie auf. Wo das Gewebe noch lebte, waren die Schmerzen schier unerträglich, oft schrie Gül, doch niemand kam. Wo es abgestorben war, verfärbte es sich schwarz. Tabletten und Infusionen vermochten die Ausbreitung nicht zu stoppen, und im Frühjahr 1991 entstand in Güls linker Wange ein Loch, durch das man die Backenzähne sehen konnte. Nur noch selten tauchte ein Arzt auf. Gül nahm kaum Nahrung zu sich, verlor an Gewicht. Im August 1991 wog sie mit ihren 1,60 Meter Größe gerade mal 34 Kilogramm. Sie fühlte sich so schwach, dass sie sich nur noch unter Mühen aus dem Bett erheben konnte.

    Warum nur kam niemand, um nach Gül zu sehen? Ihre Familie in Deutschland besaß doch noch jenes Haus in dem Dorf, in dem Gül ihre glücklichen ersten Jahre verbracht hatte. Oft träumte sie vom großen Garten. Später erklärte ihr die Tante, dass sie nach wie vor jeden Sonntag angerufen habe. Dass die Heimbetreuerinnen immer andere Ausreden parat gehabt hätten: Gül sei beim Spielen im Garten. Es sei keine Telefonzeit. Das Mädchen sei gerade nirgendwo aufzutreiben. Erst allmählich habe sie Misstrauen entwickelt.
    An einem sonnigen Septembervormittag – Gül lag mittlerweile seit neun Monaten im Krankenhaus – holte eine ihrer wenigen verbliebenen Freundinnen sie ab, um sie ins Heim mitzunehmen. Gül würde nie erfahren, warum die Freundin ausgerechnet an jenem Tag kam und ob es mit ihrer Tante zu tun hatte. Damals aber glaubte sie, das Mädchen wollte ihr die Gelegenheit geben, von ihrer letzten Heimat Abschied zu nehmen. Doch im Heim war mittlerweile die Tante gewesen, hatte Gül dort nicht angetroffen und war zur gleichen Zeit auf dem Weg ins Krankenhaus. Fast hätten sie sich verpasst.
    Als Gül am Nachmittag zurückkam und die Tür zu ihrem Zimmer öffnete, saß ihre Tante auf dem Rand ihres Bettes. Als sie Gül erblickte, schlug sie die Hand vors Gesicht, ihr entfuhr ein Schrei – dabei trug Gül einen Verband um den Kopf, der ihre linke Gesichtshälfte komplett bedeckte.
    Warum hast du so lange gebraucht, um herzukommen, dachte Gül. Sie war wütend auf ihre ganze Familie, aber sie schluckte ihre Gefühle hinunter, hatte keine Kraft zu streiten, spürte auch, dass ihr Leben abhing vom Wohlwollen ihrer Familie.
    Sie fuhren in das Haus im Dorf. Die Tante besorgte Gül einen Reisepass, dann schickte sie Gül zu ihrem leiblichen Vater. Der musste ein Papier unterschreiben, damit Gül nach Deutschland ausreisen konnte. Sie klingelte an der Tür eines fremden Hauses, ein Mädchen öffnete ihr, jünger als

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