Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
sie. Der Vater saß im Wohnzimmer. Sie kannte diesen Mann, war ihm früher im Dorf öfter begegnet, ohne etwas von ihrer Verbindung zu ahnen. Später würde sie ihn nicht beschreiben können. Sie tilgte dieses einzige Zusammentreffen in kalter Atmosphäre aus ihrem Gedächtnis. Nur eines würde sie nie vergessen: Er schickte sie zurück zur Tante. Er wolle Geld für die Unterschrift, solle sie ihr ausrichten.
Am 12. September 1991 saß Gül in einem Flugzeug auf dem Weg von Ankara nach Düsseldorf – allein, ihre Tante war schon vorausgeflogen. Als sie dem deutschen Grenzbeamten ihren Reisepass zuschob, musterte der das Dokument aufmerksam, dann sie, dann stellte er eine Frage auf Deutsch. Sie verstand nichts. Ein Türke aus der Warteschlange eilte zu Hilfe. Ob sie eine Einladung oder Aufenthaltserlaubnis vorweisen könne, übersetzte er. Sie sagte, draußen warteten Tante und Onkel. Der Beamte blickte misstrauisch zwischen Gül und ihrem Helfer hin und her – dann winkte er sie durch.
Doch draußen erwartete sie niemand. Mitten in der Empfangshalle setzte sie sich auf ihren Koffer und begann hemmungslos zu weinen. Ein junges türkisches Pärchen eilte hinzu. Wo sie hinmüsse? Ob sie eine Adresse habe?
Als Güls Tante und Onkel eine Stunde zu spät am Flughafen eintrafen – sie hatten sich mit der Ankunftszeit vertan –, war Gül schon in einem dunkelblauen Mercedes auf dem Weg in die Wohnung in Neuss, wo ihre Cousine Necla öffnete, als es klingelte.
»Ist das deine Schwester?«, fragte die fremde Frau vor der Tür, deutete auf Necla und beugte sich hinunter zu Gül, die sich hinter ihr versteckte. Necla erschrak. Auf die Krankheit war sie vorbereitet gewesen, nicht aber darauf, wie mager ihre Cousine war, sie vermochte sich kaum auf den dürren Beinen zu halten. Gül nickte nur.
Als Necla wenige Minuten später den Verband abwickelte und sah, was er verbarg, musste sie sich zusammenreißen, um nicht zurückzuspringen. Es roch nach verfaultem Fleisch. Doch Necla absolvierte seit zwei Monaten eine Ausbildung zur Arzthelferin und hatte sich bereits ein gewisses Maß an Professionalität angewöhnt.
Sofort griff sie zum Telefon und rief ihren Chef an, einen niedergelassenen Neurologen. »Meiner Schwester fehlt das halbe Gesicht«, sagte sie nur. Der Arzt sah Gül schon am nächsten Tag. Er schickte die Familie umgehend in die Ambulanz der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie des Universitätskrankenhauses Düsseldorf.
Siegmar Reinert kannte sich aus mit stigmatisierenden Erkrankungen. Viele seiner Patienten litten unter massiven Entstellungen des Gesichts. Die einen hatten schwere Unfälle hinter sich, andere waren im Auto bis zur Unkenntlichkeit verbrannt, wieder andere litten unter Tumoren im Nasen- und Mundraum, die das Gesicht zerfraßen, bis es zerfiel.
Als er Gül das erste Mal in der Ambulanz der Klinik für Mund-, Kiefer- und Gesichtschirurgie des Universitätskrankenhauses Düsseldorf sah, erschütterte es ihn trotzdem. Die Zerstörungen waren schlimmer, als er es sich vorgestellt hatte, nachdem ihm die Patientin vom Chefarzt angekündigt worden war. Das linke Auge war stark entzündet und quoll hervor, sie gab an, damit nicht mehr sehen zu können. Vom linken Ohr existierte nur noch die obere Hälfte. Wichtige Strukturen unter der Haut würden wohl unrettbar verloren sein – die Speicheldrüsen, der Nervus facialis, zuständig für die Mimik. Nahe der Nase gähnte im Oberkieferknochen ein Loch, die Entzündung hatte sich durch den Knochen gefressen und die Kieferhöhle eröffnet. Was immer es war – es bestand die Gefahr, dass es ins Gehirn vordrang. Diesem Mädchen musste sofort geholfen werden, sonst würde es sterben.
Die Angehörigen, die neben ihr im Untersuchungszimmer standen, blickten ihn erwartungsvoll an. »Können Sie das wegoperieren?«, übersetzte das hübsche junge Mädchen in fließendem Deutsch die Worte ihrer Mutter.
»Auf keinen Fall sofort«, wehrte er ab. »Wir müssen zuerst wissen, woran Ihre Cousine leidet. Dafür müssen wir viele Untersuchungen machen.«
Das Mädchen übersetzte wieder. »Untersuchungen wurden in der Türkei schon viele gemacht, sagt meine Mutter, aber die Ärzte haben nicht herausgefunden, was es ist.«
Reinert versuchte redlich, die Krankheitsvorgeschichte zu erfahren, aber viel mehr Informationen bekam er nicht. Immerhin hatte die Tante Unterlagen aus der Türkei mitgebracht, die mehr Aufschluss geben würden, wenn man sie
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