Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)
übersetzen ließ.
Für die bürokratischen Probleme wusste er schon eine Lösung. Er würde bei der Krankenhausverwaltung ein »wissenschaftliches Freibett« beantragen – die einzige Möglichkeit, Patienten ohne Krankenversicherung an der Uniklinik zu behandeln.
Als er sich noch am gleichen Abend die Computertomografie-Bilder des Schädels ansah, erkannte er, dass er mit seiner Befürchtung recht gehabt hatte. Der zerstörerische Prozess hatte die linke Augenhöhle befallen, war weit in die Kieferhöhle vorgedrungen und nahe ans Gehirn gelangt.
Woran litt Gül? Krebs – oder Infektion? Es hatte nichts zu sagen, dass die türkischen Kollegen die Ursache nicht gefunden hatten, das war mitunter sehr schwierig. Sie würden alle Untersuchungen wiederholen müssen.
Die Diagnostik der Hauterkrankungen stützt sich seit mehr als einem Jahrhundert im Wesentlichen auf drei Säulen.
Erstens: Blickdiagnose. Einige Krankheiten, die das Gesicht verstümmeln und möglicherweise in der Türkei noch vereinzelt vorkamen, konnte Reinert so ausschließen. Lepra zum Beispiel führte typischerweise zu knotigen Veränderungen der Haut, dem »Löwengesicht« – an der Patientin waren sie nirgends zu sehen. Viel weiter kam Reinert mit bloßem Auge nicht, die Zerstörungen waren zu weit fortgeschritten. Vielleicht hätte vor zwei Jahren eine Chance bestanden, als die Krankheit noch ein roter Fleck gewesen war – aus der Form und Oberflächenbeschaffenheit solcher ersten Hautveränderungen – Primäreffloreszenzen – können Ärzte viele Rückschlüsse ziehen.
Zweitens: Histologie – Untersuchung des Gewebes unter dem Mikroskop. Würden sie Krebszellen finden? Dann wäre es möglich, eine genaue Zuordnung zu einem Gewebetyp zu treffen und darauf fußend die Operationen zu planen. Anhand der genauen Analyse der Krebszellen könnte entschieden werden, wie weit ins Gesunde hinein die Gewebeabtragungen erfolgen müssten, damit der Tumor möglichst komplett entfernt würde. Entscheidend für das junge Mädchen! Je mehr man wegnehmen musste, desto schwieriger würde es werden, später das Gesicht zu rekonstruieren.
Drittens: Mikrobiologie – hilfreich, falls eine Infektion mit Bakterien oder Pilzen vorlag. Vielleicht würden sie doch noch die typischen, stäbchenförmigen Mykobakterien finden, die die türkischen Kollegen offenbar vergeblich gesucht hatten. Das würde auf die äußerst seltene Tuberkulose der Haut – »Lupus vulgaris« oder »fressender Wolf« genannt – hinweisen. Doch zu dieser Krankheit passten nicht die ausgedehnten Nekrosen – schwarz verfärbtes Gewebe, das abgestorben war. Eine andere tückische Krankheit kam Reinert in den Sinn: Noma, Wangenbrand, eine bakterielle Infektion, die vornehmlich in Afrika vorkommt und das Gesicht in rasender Geschwindigkeit zerfrisst. Doch die Krankengeschichte des Mädchens – roter Fleck unterm Auge zu Beginn – passte überhaupt nicht: Noma geht von der Mundschleimhaut aus.
Vielleicht war es auch ein Erreger, der in der Fachliteratur noch gar nicht erwähnt war? Wie auch immer: Die Diagnostik würde außerordentlich heikel werden. Denn um den sicheren Nachweis zu führen, müsste man den Erreger auf einem speziell für ihn geeigneten Nährboden anzüchten – und das würde nur dann gelingen, wenn der Blick unter dem Mikroskop einen Anfangsverdacht ergab.
Überhaupt brauchten sie Glück, um in einer derart ausgedehnten Entzündung die richtige Stelle zu treffen, wenn sie Gewebe entnahmen. Gut möglich, dass sie danebenstachen und gar nichts fanden, denn weder Tumorzellen noch Krankheitskeime finden sich überall im zerstörten Gewebe – oft sind unter dem Mikroskop nur die Folgen zu sehen, nicht aber die Ursache.
Gül hatte noch nie in ihrem Leben so viel Aufmerksamkeit erfahren. Sie konnte die vielen vermummten Menschen in grünen Kitteln nicht unterscheiden, die täglich ihr Zimmer betraten und lange Diskussionen in der ihr unverständlichen Sprache führten. Doch ihre Blicke waren liebevoll, sie waren aufmerksam, schienen zu verstehen, dass Gül das Essen mit ihrer offenen Wange große Probleme bereitete, schoben ihr einen Schlauch in die Nase, durch den eine ockerfarbene Flüssigkeit in ihren Magen floss. Sie schienen weniger Angst vor Gül zu haben, auch wenn sie alle Vorsichtsmaßnahmen einhielten. Güls abgelegte Kleidung musste 24 Stunden in einen Eimer mit Sterilisationsflüssigkeit eingelegt werden, bevor ihre Angehörigen sie mit nach
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