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Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition)

Titel: Patient meines Lebens: Von Ärzten, die alles wagen (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bernhard Albrecht
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29. Mai 1993, dem Tag des Umzugs, nach einer schlaflosen Nacht. Ihre Wohnung stand voller gepackter Kartons. Stundenlang hatte sie mit sich gerungen, ob sie Scott alleine lassen könne. Er wollte einen Krankenwagen rufen. Sie sagte nur: »Mach dir keine Sorgen, ich bin wieder da, wenn der Umzug beginnt.« Und fuhr selbst.
    Das Krankenhaus sah eher nach einer Kurklinik aus, nur zwei Stockwerke hoch, umgeben von Park und Teich, mit großen Fenstern und gelbverputzten Mauern. Aber es lag nur zwei Kilometer entfernt, und immerhin war es eine chirurgische Klinik. Der Arzt in der Notaufnahme betastete ihren Bauch, der hart war wie ein Brett, röntgte sie. Darmverschluss, erkannte er sofort. Der gestaute Stuhlgang drohte unmittelbar, die Darmwände zu zerreißen. Er sagte: »Wir müssen Sie sofort operieren.« Und rief seinen Chefarzt an, der seine Urlaubsreise verschob, als er von dem Befund hörte.
    Der Tumor, den sie im Dickdarm fanden, war groß wie ein Golfball. Sie entnahmen 60 Zentimeter Darm. Am nächsten Tag erklärte ihr der Stationsarzt, sie habe Glück gehabt. Helmke verstand zuerst nicht. Tumor, was bedeutete das?
    »Heißt das, ich habe Krebs?«
»Dickdarmkarzinom: Das Schicksal nach Radikaloperation entscheidet sich in den ersten zwei Jahren.«
Lehrsatz der Bauchchirurgie
    Wer wird von seinem Tumor geheilt, wer erleidet einen Rückfall? Wer wird zu einem normalen Leben zurückkehren, wer vorzeitig sterben? Nur für wenige Krebsarten lässt sich dies so genau vorhersagen wie für den Dickdarmkrebs. Die Grenze zwischen Heilung und möglichem chronischem Leiden lässt sich in Millimetern angeben, sie verläuft exakt zwischen zwei Gewebeschichten, die den Dickdarm umhüllen.
    Wuchert der Tumor nur in der innersten Schicht der Darmschleimhaut, ist es nahezu egal, wie bösartig das Gewebe unter dem Mikroskop aussieht – nach der Operation wird er höchstwahrscheinlich nicht wiederkommen. Unterhalb der Schleimhaut aber, in den angrenzenden Gewebs- und Muskelschichten des Darms, verlaufen Lymphbahnen und Adern, über die sich die entarteten Zellen im Körper ausbreiten können. Weit entfernt in anderen Organen können dann in den kommenden Jahren Tochtergeschwülste wachsen.
    Bei Helmke Sears war der Tumor noch tiefer gewachsen, er hatte alle Muskelschichten durchdrungen und das Fettgewebe erreicht. Neun Lymphknoten waren tumorbefallen. Ihre Chance, die kommenden fünf Jahre zu überleben, lag bei 25 bis 35 Prozent – so der wissenschaftliche Stand damals.
    Sie war eine Frau, die gerne der Wahrheit ins Gesicht blickte. Es brauchte nur wenige Tage, dann hatte sie ihr ganzes Denken der neuen Situation angepasst. Sie saß auf einer Bank im Park, neben sich den Infusionsständer, lauschte den Vögeln und atmete die frische Luft, in der schon der Sommerduft lag. »Ich fühle mich wie neugeboren«, notierte sie später in ihr Tagebuch, und wenige Zeilen darunter: »Ich muss noch mindestens sechs Jahre durchhalten. Dann sind die Kinder aus dem Gröbsten heraus und selbständig genug, um mit Scott alleine zurechtzukommen.«

    Die Chemotherapie überstand sie gut. Morgens vor dem Spiegel riss sie an ihren Haaren, sie blieben fest verwurzelt. Nur stark abgenommen hatte sie in den vergangenen Wochen, ihr Körper fühlte sich schwach und zerbrechlich an.
    In den Wochen darauf zog sie schonungslos Bilanz. Warum hatte es ausgerechnet sie getroffen? Sie war 35 Jahre jung, Dickdarmkrebs hingegen war eine Erkrankung des höheren Alters.
    Hatte sie sich ihr Leben schöngeredet, nur weil es jetzt besser war als ihre Kindheit? Der Vater, Alkoholiker, kalt, abwesend, hatte sie geschlagen. Als sie 14 war, hatte er gesagt: »Mit einer Hure esse ich nicht am Tisch.« Die Mutter: unterwürfig. Die Familie zerbrach. Ihre Brüder und Schwestern gingen eigene Wege, keiner hielt Kontakt, alle wollten vergessen, wie schlimm es zu Hause gewesen war.
    Helmke war stark geworden durch die Verletzungen. Sie spürte in sich eine unerschöpfliche Kraft. Sie arbeitete sich hoch. Realschule, Ausbildung zur Werbefachfrau, eigene Agentur, Glamourwelt.
    Ihr Leben war ganz anders als das ihrer Eltern. Es war ihr später Sieg. Aber die Opfer waren groß: Sie arbeitete zwölf Stunden am Tag, oft am Wochenende. Sie fühlte sich unter Dauerstrom, auch privat. Scott sprach kaum Deutsch, hatte sich nie beworben, verdiente kein Geld. Sie musste etwas ändern – und notierte auf einem Schmierpapier ihren neuen Plan:
Stressoren: Hilfen zur

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