Patient Null
abhaken können. Du magst es nicht,
dass Church andere Geschütze aufgefahren hat. Er schafft es, den Mann psychisch und emotional zu kriegen. So hart du auch sein magst, Joe – ich bin mir nicht sicher, ob dir das gelungen wäre. Und trotzdem … Church hat ihn nicht einmal angerührt.«
»Okay, okay. Ich verstehe, worauf du hinauswillst, weiser Yoda«, gab ich zerknirscht zu. »Aber das war noch längst nicht alles!«
»Ich weiß«, sagte Rudy und nickte. »Du bist dir nicht sicher, ob Church es ernst gemeint hat. Ob er tatsächlich seine Drohungen wahrgemacht hätte.«
Ich starrte auf meine Flasche. »Genau. Er hat sich selbst ein Monster genannt.«
»Ja, ich weiß. Wir können nur hoffen, dass er nicht tatsächlich ein Monster ist.«
»Und wenn doch?«
Rudy schüttelte den Kopf. »Ich wiederhole mich gerne, Cowboy. Das Schlimmste, was ich mir in dieser Lage vorstellen könnte, ist, Church zu sein.«
72
Crisfield, Maryland Mittwoch, 1. Juli / 06:50 Uhr
Rudy kehrte zu einem Wohnwagen zurück, wo er eine posttraumatische Sitzung mit den verbliebenen Mitgliedern des Alpha-Teams abhielt. Ich sah Grace neben dem Zelt der Sanitäter stehen und ging zu ihr. Ihre Augen waren rot umrandet, aber Tränen vergoss sie keine mehr. Vielleicht hatte sie sich ausgeweint. Zumindest für heute. Ich konnte nur hoffen, dass sich Rudy bald Zeit für sie nehmen und sich mit ihr zusammensetzen würde.
Als ich mich näherte, blickte Grace auf. In ihrem Gesicht spiegelte sich eine Reihe verschiedener Emotionen wider.
Natürlich Trauer, aber auch Freude und ein Anzeichen der Überraschung – vielleicht als sie merkte, dass sie mich anlächelte. Ich lächelte sie auch an, denn ihre Erscheinung vermittelte mir ein warmes Gefühl. Außerdem verspürte ich ein deutliches Kribbeln, was mich überraschte. Ich spürte es tief in meinem Inneren. Bisher hatte ich Liebesbeziehungen unter Kollegen immer mehr oder weniger abgelehnt. Den jeweiligen Pärchen hielt ich insgeheim vor, sich nicht beherrschen zu können. Aber als ich nun meine Gefühle für Grace wahrnahm – wie neu und unausgegoren sie auch noch sein mochten -, regte sich keinerlei Widerwillen. Das Engelchen auf meiner rechten Schulter tanzte vielmehr vergnügt mit dem Teufelchen auf meiner linken Schulter.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte ich sie. »Oder ist das die dümmste Frage, seitdem Nero seine Freunde fragte, ob sie etwas Musik hören möchten?«
»Es geht«, erwiderte sie und reichte mir einen Pappbecher mit heißem Kaffee. »Ich darf nur nicht zu viel darüber nachdenken … An mein Team und so.« Sie versuchte, ein Lächeln aufzusetzen. »Der Nervenzusammenbruch ist erst geplant, wenn alles vorüber ist.«
»Geben Sie mir Bescheid, falls ich Ihnen dabei Gesellschaft leisten soll.«
Sie warf mir einen nachdenklichen Blick zu und nickte. »Auf dieses Angebot könnte ich durchaus noch zurückkommen.« Dann wechselte sie das Thema. »Ihr Freund Detective Spencer hat sich nach Ihnen erkundigt. Genauer gesagt, wollte er wissen, wo Sie verdammt nochmal stecken und was Ihnen einfällt, ihn von einer Gruppe Schläger zu einer derart unchristlichen Zeit aus dem Bett zu zerren, obwohl er krankgeschrieben ist. Er scheint in seiner Wortwahl nicht zimperlich zu sein.«
»Der gute alte Jerry.«
»Sie sollten wissen, dass wir ihn bereits interviewt haben.« Sie sah mich an. »Deshalb waren Mr. Church und ich auch
im Krankenhaus – in St. Michael’s. Wir hatten ein Auge auf Ihren Freund geworfen, seitdem er beim Einsatzkommando angefangen hat. Und als er angeschossen wurde, waren wir so frei, ihn zu kidnappen. Vielleicht klingt es schöner, wenn ich sage, dass wir ihn uns geborgt haben, sobald ihn die Ärzte entließen.« Sie schüttelte den Kopf. »Ich will mir gar nicht vorstellen, was passiert wäre, wenn nicht zufällig Mr. Church vor Ort gewesen wäre, als die Infektion anfing, sich auszubreiten.«
»Glauben Sie, es hätte noch schlimmer kommen können?«
»Das glaube ich nicht – das weiß ich.« Sie schenkte mir ein Lächeln. »Es ist merkwürdig, aber seitdem ich ihn kenne, seitdem ich von Barrier zur DMS versetzt wurde, war dies das einzige Mal, dass ich ihn aktiv im Einsatz erlebt habe.«
»Ich kann mir vorstellen, dass er recht effektiv ist. Er hat diesen Blick … Was hat er eigentlich davor gemacht? Irgendeine Taskforce geleitet?«
»Das weiß ich nicht, obwohl ich heimlich ein paar Nachforschungen angestellt habe. Ich glaube, dass er MindReader benutzt
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