Patient Null
Frachtschiff mitten auf hoher See abzufangen.
51
DMS-Lagerhalle, Baltimore Dienstag, 30. Juni / 21:58 Uhr
Rudy und ich liefen nebeneinander einen Flur entlang. Church war noch bei den Wissenschaftlern geblieben, um sich mit Dr. Hu zu besprechen. Ich warf einen Blick auf meine Uhr. »Kaum zu glauben, dass es immer noch derselbe Tag ist. Findest du nicht?«
Aber Rudy wollte nicht sprechen, zumindest nicht auf dem Gang. Ich fragte eine Wache nach unseren Unterkünften, und der Mann führte uns zu zwei ehemaligen Arbeitsräumen, die einander gegenüber lagen. Mein Zimmer war angenehm groß, fast wie ein anständiges Hotelzimmer, obwohl es offensichtlich einmal als Abstellraum gedient hatte. Es hatte keine Fenster, und die frühere Büroatmosphäre spiegelte sich in einem langweilig grauen Teppichboden wider. Das Bett in der Ecke jedoch stammte aus meiner
Wohnung, ebenso wie mein Computer. Das Gleiche galt für das große TV-Gerät und den Liegesessel. Vor dem Schrank standen drei vollgepackte Koffer. Und auf dem Bett, seinen Kopf auf die Pfoten gelegt, lag Cobbler. Er öffnete ein Auge, fand mich weniger interessant als das, was ihm gerade in seinen Träumen passierte, und gab sich wieder ganz dem Schlaf hin.
Wir traten ein, und Rudy ließ sich auf dem Liegesessel nieder. Erschöpft schlug er die Hände vors Gesicht. Ich warf einen Blick in den Minikühlschrank, den man mir zur Verfügung gestellt hatte, holte zwei Flaschen Wasser heraus und tippte Rudy mit einer auf die Schulter. Er sah auf, nahm die Flasche und stellte sie auf den Boden zwischen seinen Füßen. Ich öffnete meine, trank einen Schluck und setzte mich dann auf den Boden, Rücken an die Wand gelehnt.
Nach einer Weile nahm Rudy die Hände vom Gesicht. Ich konnte sehen, wie stundenlanger Stress und Anspannung ihre Spuren in Rudys Miene hinterlassen hatte. Seine Augen glitzerten verdächtig. »Auf was haben wir uns da nur eingelassen, Cowboy?«
»Es tut mir leid, dass ich dich mit reingezogen habe, Rudy.«
Er schüttelte den Kopf. »Quatsch. Darum geht es nicht. Zumindest nicht im Großen und Ganzen. Ich meine diese …« Er suchte nach einem passenden Ausdruck. »… diese Welt, in der wir uns befinden. Allein die Tatsache, dass so etwas wie DMS überhaupt existiert. Dass es sie geben muss . Ich meine nicht, dass wir über eine supergeheime Abteilung etwas in Erfahrung gebracht haben. Verdammt, Joe, davon gibt es wahrscheinlich Dutzende! Hunderte! Ich bin Realist genug, um zu verstehen, dass Regierungen nicht ohne Geheimnisse auskommen. Sie brauchen Spione und Agenten. Ich bin erwachsen und kann mit so etwas umgehen. Ich kann auch gerade noch akzeptieren, wenn auch extrem widerwillig,
dass seit 9/11 der Terrorismus Teil unseres alltäglichen Lebens geworden ist. Zeige mir einen Komiker, der darüber keine Witze macht. 9/11 ist einfach allgegenwärtig.«
Ich nahm erneut einen Schluck Wasser, machte aber keine Anstalten, zu antworten.
»Aber was uns heute offenbart wurde … Das sind Dinge, die mein Leben für immer verändert haben werden. Am 11. September habe ich, wie so viele andere auch, gesagt, dass das Leben nie wieder so sein wird, wie es einmal war. Egal, wie sehr wir uns auch wieder in den Alltag stürzen, egal, welche Farbe die jeweilige Terrorismusalarmstufe haben mag. Und es stimmt. Daran gibt es nichts zu rütteln. Der Tag war wie kein anderer in meinem Leben. Aber das, was ich heute erleben musste, trifft mich genauso hart wie 9/11, wenn nicht noch härter. Weißt du, wie ich heute meine Zeit verbracht habe? Ich war geschlagene zehn Minuten auf der Toilette und habe geheult wie ein Schlosshund.«
»He, du hast ja auch menschliche Züge«, witzelte ich freundlich, aber er unterbrach mich ungeduldig.
»Lass das, Joe. Ich meine es ernst. Willst du wissen, warum ich mir die Augen ausgeweint habe? Es war nicht, weil ich Angst um unsere Kultur habe, und auch nicht wegen der Menschen, die neulich im Krankenhaus sterben mussten, oder wegen der Kinder in Delaware. Allein achtzigmal so viele Menschen sind letzten Monat in Malaysia bei einem Erdbeben umgekommen. Das hat mich also nicht zum Weinen gebracht. Millionen sterben jedes Jahr. Ich kann Sympathie aufbringen, aber keinen Kummer empfinden. Keinen echten Kummer, der mir an die Nieren geht. Solche Nachrichten sind keine echten lebensverändernden Neuigkeiten mehr, sondern lösen nur ein ähnliches Mitgefühl aus, wie es ein Dorf empfinden mag, wenn dort ein Kind in einen Brunnen
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