Patria
schlug den Atlas auf. Er und Gary waren vor einer Stunde aufgestanden, dann hatten sie geduscht und ein leichtes Frühstück zu sich genommen. Er war nicht nur ins Schmetterlingshaus gegangen, um vor elektronischen Abhörgeräten sicher zu sein, sondern auch, um auf das Unvermeidliche zu warten. Denn es war nur eine Frage der Zeit, bis Hermann den Diebstahl bemerken würde.
Dieser Vormittag stand den Mitgliedern zur freien Verfügung, da die nächste Versammlung erst am späten Nachmittag stattfinden sollte. Die Papyri hatten die ganze Nacht über im Atlas unter Thorvaldsens Bett gelegen. Jetzt war er begierig darauf, mehr zu erfahren. Er konnte zwar Latein, aber kaum Griechisch, und Altgriechisch, die Sprache, in der Hieronymus und Augustinus aller Wahrscheinlichkeit nach kommuniziert hatten, beherrschte er überhaupt nicht; deshalb war er dankbar, dass Hermann diese Übersetzungen hatte anfertigen lassen.
Gary saß ihm gegenüber auf einem anderen Stuhl. »Gestern Abend hast du gesagt, dass diese Papiere wahrscheinlich die Informationen enthalten, derentwegen wir hierhergekommen sind.«
Thorvaldsen entschied, dass der Junge die Wahrheit verdient hatte. »Du bist entführt worden, um deinen Vater zu zwingen, etwas zu suchen, was er vor vielen Jahren versteckt hat. Ich glaube, dass diese Dokumente hier etwas mit dieser alten Geschichte zu tun haben.«
»Was sind das denn für Dokumente?«
»Ein Briefwechsel zwischen zwei Gelehrten. Augustinus und Hieronymus. Sie haben im vierten und fünften Jahrhundert gelebt und grundlegende Elemente der christlichen Religion formuliert.«
»Allmählich finde ich Geschichte ja ganz interessant, aber es ist einfach zu viel.«
Henrik lächelte. »Und wir haben heute das Problem, dass wir zu wenig Dokumente aus jener Zeit besitzen. Viele alte Dokumente gingen durch Krieg, politischen Wandel, natürlichen Zerfall und mutwillige Zerstörung verloren. Hier aber haben wir die Originalschriften zweier bedeutender Gelehrter der Spätantike.«
Thorvaldsen wusste ein wenig über diese Männer. Augustinus war in Afrika als Sohn einer christlichen Mutter und eines heidnischen Vaters geboren. Als Erwachsener war er zum Christentum übergetreten und hatte seine jugendlichen Exzesse in seinem Werk Die Bekenntnisse geschildert, das an vielen Universitäten immer noch Pflichtlektüre war. Augustinus wurde als Bischof von Hippo ein intellektueller Vorreiter des afrikanischen Katholizismus und ein mächtiger Verfechter strenggläubiger Lehren; ein Großteil des frühen kirchlichen Gedankenguts wurde ihm zugeschrieben.
Auch Hieronymus stammte aus einer heidnischen Familie und vergeudete seine Jugend. Er war sehr gebildet und wurde als der intellektuellste aller Kirchenväter angesehen. Er lebte als Eremit und widmete dreißig Jahre seines Lebens der Übersetzung der Bibel. Er wurde schon immer mit Bibliotheken in Verbindung gebracht und galt schließlich als deren Schutzheiliger.
Nach allem, was Thorvaldsen am Vorabend erlauscht hatte, hatten diese beiden Männer, die in verschiedenen Teilen der alten Welt lebten, offensichtlich zu der Zeit, als Hieronymus an seinem Lebenswerk gearbeitet hatte, miteinander in Briefkontakt gestanden. Hermann hatte den Vizepräsidenten auf die Manipulation bei der Bibelübersetzung hingewiesen, doch Thorvaldsen musste sich ein klareres Bild machen. Daher suchte er die übersetzten Seiten und fing an, die englischen Textstellen laut vorzulesen.
Mein gelehrter Bruder Augustinus, es hat eine Zeit gegeben, da hielt ich die Septuaginta für ein wunderbares Werk. Ich las den Text in der Bibliothek von Alexandria. Zu lesen, wie diese Schriftgelehrten von den Schwierigkeiten und Plagen des Volkes Israel berichteten, weckte den Glauben, der schon lange in meiner Seele schlummerte. Doch diese Freude ist nun der Verwirrung gewichen. Bei meiner Übersetzungsarbeit am alten Text wurde deutlich, dass man sich bei der Septuaginta enorme Freiheiten herausgenommen hat. Absatz für Absatz ist unrichtig wiedergegeben. Jerusalem ist keine Stadt, sondern eine Gegend mit vielen Städten. Jener heiligste aller Flüsse, der Jordan, ist kein Fluss, sondern eine Bergkette. Auch die Ortsnamen sind zum größten Teil falsch. Die griechische Übersetzung stimmt nicht mit dem Hebräischen überein. Es ist, als wäre die Botschaft vollständig verändert worden, und zwar nicht aus Unwissenheit, sondern mit Bedacht.
Hieronymus, mein Freund, du bist ein schwieriges Werk angegangen, das
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