Patria
würdest du tun, wenn du die Bibliothek gefunden hättest?«, fragte sie.
Er verbarg seine Belustigung. Offensichtlich wollte sie vom Thema ablenken. »Man kann sich gar nicht vorstellen, welche großartigen Gedanken dort zu finden sein könnten.«
»Ich habe gehört, wie du gestern darüber gesprochen hast. Erzähl mir doch mehr darüber.«
»Ach, du meinst die in Istanbul gefundene Karte des Piri Reis aus dem Jahre 1513, über die ich gesprochen habe. Ich wusste nicht, dass du zugehört hast.«
»Ich höre immer zu.«
Er lächelte über diese Bemerkung, denn sie wussten beide, dass sie nicht stimmte.
»Ich habe dem Kanzler erzählt, dass die Karte von einem türkischen Admiral, der vorher Pirat gewesen war, auf ein Pergament aus Gazellenhaut gezeichnet wurde. Die Karte ist unglaublich detailreich. Die südamerikanische Küstenlinie ist eingezeichnet, obwohl sie damals von den Seefahrern noch gar nicht kartiert worden war. Man sieht auch die Antarktis zu einem Zeitpunkt, als sie noch nicht mit Eis bedeckt war. Erst vor kurzem ist es Wissenschaftlern gelungen, mit Hilfe von Bodenradar den genauen Umriss dieser Küstenlinie zu bestimmen. Trotzdem ist diese Karte von 1513 so gut wie die aktuellen Karten. Der Kartograph hat auf ihr notiert, dass er Seekarten aus der Zeit Alexanders des Großen, des Herrn der zwei Kaps, verwendet hat. Stell dir das einmal vor. Vielleicht haben Seefahrer der Antike die Antarktis schon vor Tausenden von Jahren besucht, bevor sie mit einer Eisschicht bedeckt war, und ihre Entdeckungen auf Karten festgehalten.«
Hermann schwirrte der Kopf bei dem Gedanken an all die unzähligen verschollenen Werke aus Mathematik, Astronomie, Geometrie, Meteorologie und Medizin, die die Bibliothek enthalten konnte.
»Wissen, das nicht schriftlich festgehalten ist, geht entweder verloren, oder es wird bis zur Unkenntlichkeit entstellt. Hast du schon einmal von Demokrit gehört? Er ist als Erster auf den Gedanken gekommen, dass alle Dinge aus einer endlichen Menge nicht mehr teilbarer Partikel bestehen. Heute nennen wir diese Partikel Atome, aber Demokrit war der Erste, der ihre Existenz erkannt und die erste Atomtheorie aufgestellt hat. Aus verschiedenen Quellen weiß man, dass er siebzig Bücher verfasst hat, aber kein einziges dieser Werke ist erhalten geblieben. Und es hat Jahrhunderte gedauert, bis andere Menschen in anderen Zeiten wieder dieselben Erkenntnisse hatten.
Auch von den Schriften des Pythagoras ist so gut wie nichts erhalten geblieben. Manetho hat Ägyptens Geschichte aufgezeichnet. Auch sein Werk ist verschollen. Galen, der berühmte Arzt der römischen Welt, hat fünfhundert medizinische Abhandlungen geschrieben, von denen nur Bruchstücke erhalten sind. Aristarchus war überzeugt, dass die Sonne und nicht die Erde Mittelpunkt des Universums sei. Aber der Mann, dem die Geschichtsschreibung diese Erkenntnis zugutehält, ist Kopernikus, der siebzehn Jahrhunderte später lebte.«
Er hätte endlos fortfahren und noch viele andere Gelehrte auf diese Liste setzen können. Erathosthenes und Strabo, die beiden Geographen. Archimedes, den Physiker und Mathematiker. Zenodotus mit seiner Grammatik. Kallimachos, den Dichter. Thales, den ersten Philosophen …
»Es ist immer dasselbe«, fuhr Hermann fort. »Wer durch Gewalt an die Macht kommt, radiert zuallererst unliebsames Wissen aus. Das hat die Geschichte immer wieder bewiesen.«
»Und wovor hat Israel nun Angst?«, fragte sie.
Er hatte gewusst, dass sie ihn früher oder später auf dieses Thema ansprechen würde, und so sagte er: »Vor einem Wissen, das die Welt verändert.«
»Vielleicht ist das eher ein Hirngespinst als eine reale Gefahr«, bemerkte sie. »Die Welt zu verändern ist schwierig.«
»Aber es ist möglich. Männer …«, er stockte, »und Frauen verändern die Welt seit Jahrhunderten. Und die tiefgreifendsten Veränderungen wurden oft nicht durch Gewalt bewirkt. Manchmal haben einfach Worte genügt. Die Bibel hat die Menschheit grundlegend verändert. Ebenso der Koran. Oder die Magna Carta. Die amerikanische Verfassung. Abermillionen von Menschen richten ihr Leben nach diesen Worten aus. Die Gesellschaft hat sich durch sie grundlegend verändert. Es sind weniger die Kriege als die Verträge, die ihnen folgen, die wirklich den Lauf der Geschichte verändern. Der Marshallplan hat die Welt nachdrücklicher verändert als der Zweite Weltkrieg. Und die wahren Massenvernichtungswaffen sind tatsächlich die Worte.«
»Du
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