Patricia - Der Kuss des Vampirs
herausnahm, kurz darin blätterte und sie dann wieder zurückstellte.
Neugierig schob Pat den Vorhang noch ein wenig mehr zur Seite. Der Mann hatte schwarzes Haar. Er trug es unmodisch lang und hielt es am Hinterkopf mit einer schwarzen Schleife zusammen. Sofort fiel ihr wieder dieser geheimnisvolle Fremde ein, den sie während des Gewitters vor dem Schloss gesehen hatte.
»Wünschen Sie vielleicht Tee, Mylord?« Simmons war hereingekommen, ohne dass Pat ihn bemerkt hatte. Sie zog sich zurück, ehe er oder der andere, der sich nun umwandte, sie entdecken konnte. Mylord ? Das konnte doch nicht der alte Schlossherr sein!
»Nein, danke, Simmons. Ich reite noch aus. Ich war lediglich interessiert, ob diese Miss Smith ihre Arbeit auch versteht.«
»Den Eindruck macht mir die junge Dame durchaus«, ließ sich der Butler würdevoll vernehmen. »Sie arbeitet auch sehr fleißig, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf, Mylord, und es scheint kein Fehler gewesen zu sein, ihr diese Stellung übertragen zu haben.«
»Tatsächlich.« Das klang nicht sehr überzeugt. »Nun gut, ich werde die Arbeit ein andermal überprüfen.«
Pats Augen wurden bei diesen Worten schmal. Überprüfen? Was bildete sich dieser Mensch denn eigentlich ein?
»Jawohl, Mylord.«
Pat hatte erwartet, dass der Mann nun den Raum verlassen würde, aber statt dessen hörte sie, wie er zur rückwärtigen Seite der Bibliothek ging, genau zu dem Bücherregal, wo sie zuletzt diese mysteriösen Geräusche gehört hatte. Sie lugte vorsichtig durch einen kleinen Spalt zwischen den beiden schweren Samtvorhängen. Simmons hatte den Raum bereits wieder verlassen, aber der andere machte sich dort am Regal zu schaffen, griff nach einem Buch und zog es heraus. Pat hätte beinahe einen überraschten Schrei ausgestoßen, als sich ein Teil der Wand bewegte. Also doch eine Geheimtür!
Der Mann sah sich kurz um, Pat zuckte zurück, dann hörte sie ein schabendes Geräusch und ein kleines Klicken. Als sie wieder hinter dem Vorhang vorzusehen wagte, war die Bibliothek leer und die Geheimtür wieder geschlossen.
Pat wartete noch einige Minuten, aber als draußen alles still blieb, traute sie sich aus ihrem Versteck hervor. Ein unverschämter Kerl! Wagte es, an ihrer Arbeit zu zweifeln! Na, sie würde schon herausfinden, wer dieser unbekannte Nörgler war. Sie stand minutenlang mitten im Raum, mit sich selbst unschlüssig, ob sie nun ihr Zimmer aufsuchen oder lieber diesem aufregenden Geheimnis nachspüren sollte.
Es kostete sie nicht viel Überwindung, sich für das Zweite zu entscheiden, und schon huschte sie auf Zehenspitzen zu der Bücherwand. Sie war zwar vor wenigen Tagen in Panik geflohen, als der Wind das Fenster aufgestoßen hatte, aber so lächerlich würde sie sich heute gewiss nicht benehmen. Sie war schließlich eine gebildete, erwachsene Frau, die nicht an Geister oder übernatürliche Kräfte glaubte, und dieses Mal würde sie dem Rätsel auf die Spur kommen. Sie blickte prüfend auf die Reihen der Bücher. Es war etwa in Kopfhöhe gewesen, wo der Mann dieses Buch herausgezogen hatte. Sie tastete die Reihe entlang, befühlte jeden der dicken Bände. Aber in Kopfhöhe war bei ihm wohl eine Reihe darüber. Sie glitt mit den Fingerspitzen über die Buchrücken. Hier! Dieses Buch hatte zwar ebenso einen Ledereinband wie die anderen, aber es fühlte sich ein bisschen anders an, als würde es nicht frei stehen, sondern befestigt sein. Sie atmete tief durch, fasste mit zwei Händen zu und zog langsam an. Das Buch gab nach. Sie zog ein bisschen fester und plötzlich gab es ein Klicken und dann schwang die Tür auf. Pat musste zur Seite springen, sonst wäre sie ihr gegen die Nase geprallt.
Ein kalter Luftzug drang heraus, ließ die Kerzenflammen flackern und Pat spähte in ein gähnend schwarzes Loch hinunter. Es waren Stufen zu sehen, die in eine geheimnisvolle Finsternis führten. Was, um alles in der Welt, tat dieser Mann da unten? Er hatte doch das Haus verlassen wollen! Und was mochte wohl in dieser Finsternis verborgen sein? Der Weinkeller? Wohl kaum. Ein geheimer Ausgang? Die Verliese? Ein wohliger Schauer rannte über Pats Rücken. Wie romantisch! Sie war in einer modernen Großstadt geboren und aufgewachsen, wo es schon lange Gaslicht gab und wo man sogar schon mit Elektrizität, dieser neumodischen Erfindung, herumexperimentierte. Hier konnte natürlich von alldem nicht die Rede sein und der Gedanke an Geheimgänge und Verliese brachte ihre ohnehin
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