Patterson James
wie sie sich beim Anblick des Mannes
fühlen würde, der ihren Sohn getötet hatte. Und jetzt, da es
passierte und sie nur hundert Meter von ihm entfernt war,
wusste sie: Es war nicht das, was sie wollte. Ihr Magen zog sich
zusammen.
»Ich sehe ihn.« Andies Finger umklammerten das Fernglas
noch fester. Nick hinter ihr drückte ihren Arm.
»Kommt er dir bekannt vor?«
»Nein.« Sie wünschte, er täte es. Sie wollte tiefen Hass für ihn
empfinden. Abscheu. Irgendetwas. Das war also der Mann, der
ihre Welt zerstört hatte? Wieder schüttelte sie den Kopf. »Nein,
den habe ich noch nie gesehen.«
»Er wohnt dort mit seiner Frau und seinem Sohn.«
»Er hat einen Sohn?« Das hatte Andie nicht erwartet. Wusste
seine Familie Bescheid über die abscheulichen Dinge, die er
getan hatte? Wussten sie davon, während sie beim Essen
zusammen saßen oder Ball spielten oder sonst etwas taten? Wie
konnte jemand, der ein Kind hatte, solche grausamen Dinge tun?
»Er verlässt das Haus jeden Tag um diese Uhrzeit«, erzählte
Nick, der durch sein eigenes Fernglas spähte. »Um vier Uhr. Er
bringt seinen Sohn weg.«
»Nick.« Andie nahm das Fernglas herunter und blickte ihn mit
tränennassen Augen an. »Ich glaube nicht, dass ich das tun kann.
Ich müsste diesen Mann hassen. Ich müsste sehen, was er mir
angetan hat. Ich weiß, was wir von ihm brauchen. Es ist nur so,
dass … du Drecksau«, schimpfte sie in Richtung des Hauses,
bevor sie den Blick abwandte.
»Tu einfach, was du tun musst«, sagte sie wütend. »Du hattest
Recht. Du hast Recht.«
Plötzlich wurde das Garagentor wieder geöffnet. Nick blickte
auf die Uhr. »Es geht los.«
Der Mann, der ihren Sohn getötet hatte, trat durch die Tür, die
vom Haus in die Garage führte. Er trug ein weißes, kurzärmeliges Hemd, eine braune Hose und eine Sonnenbrille. Kurz blickte
er sich um, dann stieg er in den Audi und startete ihn.
»Jeden Tag zur selben Zeit. Da ist der Junge.«
Andie drehte sich ein Stück und hob das Fernglas wieder an
die Augen. Der Junge konnte nicht älter als elf oder zwölf sein.
Etwas älter, als Jarrod gewesen war. Er ist unschuldig, sagte sie
sich, egal, was der Vater getan hatte. »Wohin fahren sie?«
»Ich weiß nicht. Ich möchte ihnen folgen. Ist das in Ordnung
für dich?«
Andie nickte. Dieser Wichser. Dieses Schwein. Wie konnte er
den liebenden Vater spielen, wenn er wusste, was er getan hatte?
Der Junge ging auf den Wagen zu, der rückwärts aus der
Garage fuhr.
Andie holte den Jungen mit dem Fernglas näher heran. Er trug
ein Buch und etwas, das wie ein Laptop aussah. Der Umschlag
des Buches war zu erkennen. Sie wusste nicht, warum sie sich
dafür interessierte.
Schach.
Der Junge stieg ins Auto.
»Komm«, forderte Nick sie auf und warf sein Fernglas auf den
Rücksitz. »Fahren wir. Ich will nicht allzu weit hinter ihnen
zurückbleiben.«
Andie nickte und wollte schon das Fernglas weglegen, beobachtete aber noch einen Moment länger den Wagen, der die
Auffahrt hinunterfuhr.
Als wäre sie in ein Becken mit eiskaltem Wasser gefallen, rief
sie: »O mein Gott, Nick!«
Bei dem Schock über das, was sie gerade gesehen hatte, wurde
ihr übel. Sie begann zu schwitzen, als die schrecklichen Bilder
in ihrer Erinnerung aufblitzten. »O nein!«
»Was ist los?« Nick stellte den Schalthebel wieder auf Parken.
»Schau ins Haus!« Ihr Kiefer verkrampfte sich, und ihr Mund
war so trocken, dass sie kaum sprechen konnte. »Siehst du den
Mann?«
Nick nahm ihr das Fernglas ab.
Er sah einen Mann, der, die Hände in die Hüften gestemmt, in
Trainingshose und weißem Guinness-T-Shirt neben dem Fenster
stand und dem Wagen hinterherblickte.
»Das ist er!« Andie wurde kreidebleich im Gesicht. Sie sah in
ihrer Erinnerung sein langes, blondes Haar. »Das ist der Mann,
der von dem Transporter weggelaufen ist!«
95
Am nächsten Tag blieb Andie im Hotel, während ich Remlikov
beschattete. Ich folgte ihm und seinem Sohn den Berg hinunter
zum Schachunterricht auf der Hassan Street im Stadtzentrum.
In der Nacht hielt ich sie fest in meinen Armen. Der Anblick
dieses Mannes hatte alle Erinnerungen zurückgeholt – den Bus,
die Explosion. Jarrod. Ich sah in ihrem Gesicht denselben
Schmerz wie am Tag in der Notaufnahme, an dem alles passiert
war.
In dieser Nacht lag sie hellwach in der Dunkelheit, obwohl ich
dachte, dass sie schlief. Ein- oder zweimal spürte ich, wie sie
erschauderte, sich von mir abwandte und ihren Kopf ins Kissen
Weitere Kostenlose Bücher