Patterson James
drückte. »Es ist in Ordnung«, flüsterte ich und legte meine Arme
um sie, um ihr Kraft zu geben. Doch ich wusste, dass es nicht in
Ordnung war. Ich wusste, der Schmerz war wieder aufgebrochen. Dieses Gesicht aus der Vergangenheit hatte alles
kompliziert gemacht.
In der nächsten Nacht lag ich kurz vor Morgengrauen wach im
Bett und beobachtete, wie das erste Licht ins Zimmer drang.
»Weißt du, wie du es anstellen wirst?«, fragte Andie wie aus
dem Nichts.
»Ja.« Ich drehte mich zu ihr.
Ich hatte einen Plan, hatte allerdings Angst, ihn ihr mitzuteilen. Ich wusste, sie würde ihn nicht gutheißen.
Wir mussten an Remlikov herankommen. Das Problem war,
dass er nur selten das Haus verließ. Ich konnte nicht einfach mit
gezückter Waffe dort hineinplatzen. Wir brauchten Remlikov
lebend. Ich wusste, es gab nur eine Möglichkeit – ein Druckmittel.
Den Jungen.
Uns blieb nichts anderes übrig, aber ich wusste, wie schwierig
es für Andie sein würde. Außerdem brauchte ich ihre Hilfe. Also
erzählte ich ihr, was wir tun mussten – und dass es den jungen
betraf.
»Es wird gefährlich werden«, erklärte ich und stützte mich auf
dem Ellbogen ab.
Ich wusste genau, um was ich sie bat. Der Junge war unschuldig, genauso wie es Jarrod gewesen war. Aber wir mussten über
das, was Remlikov am meisten liebte, an ihn herankommen –
genauso wie er das von ihr genommen hatte, was sie am meisten
geliebt hatte.
»Nick.« Sie schüttelte den Kopf. »Das kann ich nicht tun.«
»Wir bitten ihn nicht um einen Gefallen, Andie. Wir erzwingen Informationen von einem Mörder, der uns beide töten
könnte. Dies ist seine einzige verwundbare Stelle. Bevor wir
herkamen, habe ich dir gesagt, wie schwierig es werden wird.«
»Weißt du, um was du mich da bittest? Du bittest mich, einer
anderen Mutter dasselbe anzutun, was mir passiert ist.«
»Ich weiß, worum ich dich bitte, Andie.« Ich streckte meine
Hand nach ihr aus. »Ich bin kein Mörder, Andie. Aber diese
Leute sind es.«
Sie blickte mich an, als glaubte sie, ich wäre zu der gleichen
Gewalt und Bosheit in der Lage wie diejenigen, die ihr den Sohn
weggenommen hatten.
»Ich gebe dir mein Wort: Egal, was passiert, dem Jungen wird
kein Leid zugefügt.«
»O doch, das wird es. Das wird es.«
Ich fuhr mit meiner Hand durch ihr Haar, strich ein paar
Strähnen aus ihrem Gesicht. »Ich brauche dein Ja, Andie. Ich
brauche deine Hilfe, um das zu tun.«
»Und wenn ich nicht ja sage?«
»Dann gehen wir. Wir steigen ins Flugzeug und fliegen wieder
nach Hause. Wir werden Cavello vergessen.«
Andie sog die Luft ein und legte ihre Arme um ihre Knie.
»Und wenn ich ja sage? Was passiert hinterher?«
»Wir lassen den Jungen wieder laufen, Andie. Wir lassen ihn
laufen.«
Sie schüttelte den Kopf. »Ich meinte, mit Remlikov. Und dem
Blonden.«
»Ich weiß es nicht.« Ich sagte die Wahrheit.
Sie nickte, und nach einer Weile ließ sie sich in meine Richtung kippen. »Ihm darf nichts geschehen«, verlangte sie. »Der
Junge …«
»Natürlich nicht.« Ich umarmte sie. »Das verspreche ich.«
96
Pavel Nordeschenko war zwölf Jahre alt und hatte keine Lust
mehr, sich ständig von seinem Vater in die Stadt fahren lassen
zu müssen.
Andere Jungs in seinem Alter fuhren mit der U-Bahn.
Manchmal, wenn sein Vater auf einer seiner vielen Reisen
unterwegs war, ließ ihn seine Mutter mit dem Bus fahren. Dann
verbrachte er ein paar Minuten in den belebten, engen Straßen
der Altstadt, weit weg von dem weitläufigen Karmel-Center und
seiner Straße mit dem unverbauten Ausblick aufs Mittelmeer.
Hier unten, wo Abhramovs Akademie lag, herrschte das pure
Leben auf den Straßen! Sie waren erfüllt vom Geruch nach
Lederwaren, Gewürzen und arabischen Bäckereien, vom Lärm
der Händler, die ihre Waren im Basar feilboten.
Sein Vater war immer überängstlich. Wenn Pavel mit seinen
Freunden ins Kino oder an den Strand gehen wollte, sagte Vater
immer: »Man kann nie genug aufpassen.« Wovor hatte er solche
Angst? Seine Mutter gewährte ihm manchmal einen freien Tag,
aber sein Vater brachte ihn jeden Tag in die Akademie, als ginge
er zum Religionsunterricht.
»Nächste Woche findet in Tel Aviv ein Turnier statt«, erzählte
sein Vater, als sie gemächlich durch die überfüllten Straßen
fuhren. »Würdest du gerne teilnehmen?«
Pavel zuckte mit den Schultern. Turniere bedeuteten Arbeit
und mehr Zeit, um sich vorzubereiten.
»Es kommen auch Schachmeister aus anderen Ländern. Sergei
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