Patterson, James - Alex Cross 02 - Denn Zum Küssen Sind Sie Da
Rauschen. Die Statik der Stille. Das leise Summen der Ewigkeit. Nie war auch nur ein Auto zu hören. Keine einzige Fehlzündung, kein fernes Hupen. Nicht einmal das Dröhnen eines Flugzeugs am Himmel.
Naomi war zu dem Schluß gekommen, sie müßten unter der Erde sein, mindestens zwei Ebenen unter dem Boden. Hatte Casanova dieses unterirdische Haus gebaut? Hatte er alles durchdacht, davon geträumt und es dann in einem Ausbruch psychopathischer Wut und Energie verwirklicht? Sie glaubte, daß es so gewesen war.
Sie machte sich bereit, das Schweigen zu brechen. Sie mußte mit Kristen sprechen, mit Grünauge. Ihr Mund war so trocken. Er fühlte sich wie Watte an. Schließlich leckte sich Naomi die Lippen. »Ich würde für eine Cola töten, ich würde ihn für eine Cola töten«, flüsterte sie vor sich hin. »Ich könnte ihn töten, wenn ich die Gelegenheit dazu bekäme.«
Ich könnte Casanova töten. Ich könnte einen Mord begehen. Es ist weit mit mir gekommen, nicht wahr? dachte sie und mußte einen Schluchzer unterdrücken.
Schließlich rief Naomi mit lauter, kräftiger Stimme: »Kristen, kannst du mich hören? Kristen? Ich bin’s, Naomi Cross!« Sie zitterte, und warme Tränen strömten ihr über die Wangen. Sie hatte etwas gegen ihn und seine beschissenen, geheiligten Regeln unternommen.
Grünauge antwortete sofort. Die Stimme der anderen Frau klang so gut. »Ich kann dich hören, Naomi! Ich glaube, ich bin nur ein paar Türen von dir entfernt. Ich höre dich gut. Sprich weiter. Ich bin mir sicher, daß er nicht da ist, Naomi.«
Naomi dachte nicht mehr darüber nach, was sie tat. Vielleicht war er da, vielleicht auch nicht. Es spielte jetzt keine Rolle mehr. »Er wird uns umbringen«, rief sie zurück. »Etwas an ihm hat sich verändert! Er wird uns bestimmt umbringen. Wenn wir etwas unternehmen wollen, müssen wir es bei der ersten Gelegenheit tun.«
»Naomi hat recht!« Kristens Stimme war leicht gedämpft, als käme sie vom Grund eines Brunnens. »Hört ihr alle Naomi? Natürlich hört ihr sie!«
»Ich habe eine Idee, über die alle nachdenken sollten.« Dieses Mal sprach Naomi noch lauter. Sie wollte jetzt, daß ein Gespräch zustande kam. Alle sollten sie hören, alle gefangenen Frauen. »Wenn er uns das nächste Mal zusammenbringt dann müssen wir es riskieren. Wenn wir uns alle gleichzeitig auf ihn stürzen, könnte er etliche von uns vielleicht verletzen. Aber er kann es nicht mit uns allen aufnehmen! Was meint ihr?«
In diesem Augenblick ging die schwere Holztür zur Naomis Zimmer einen Spalt weit auf. Licht strömte herein. Naomi sah mit nacktem Entsetzen, wie die Tür aufging. Sie konnte sich nicht rühren, brachte kein Wort heraus. Ihr Herz schlug schmerzhaft in ihrer Brust, hämmerte, und sie bekam keine Luft. Sie fühlte sich, als müsse sie sterben. Er war hiergewesen, hatte gewartet, die ganze Zeit zugehört. Die Tür ging ganz auf.
»Hallo, ich heiße Will Rudolph«, sagte der große, gutaussehende Mann auf der Schwelle mit angenehmer Stimme. »Mir gefällt dein Plan sehr gut, aber ich glaube nicht, daß er funktioniert. Ich will dir sagen, warum.«
86. Kapitel
Ich war am Mittwoch morgen kurz vor neun auf dem Flughafen Raleigh-Durham. Die Kavallerie kam. Frische Truppen rückten an. Team Sampson war wieder in der Stadt. Im Gegensatz zu dem schleichenden Terror und der Paranoia, die auf den Straßen von Durham und Chapel Hill überall gegenwärtig waren, schienen die Geschäftsleute in ihren dunklen, gebügelten Anzügen und in ihren blumenbedruckten Kleidern von Neiman Marcus und Dillard gegen Böses immun zu sein. Das gefiel mir. Gut für sie. Verdrängung ist auch eine Methode. Schließlich sah ich Sampson, der mit langen, zielstrebigen Schritten durch die Sperre von US-Air kam. Ich winkte ihm mit der Lokalzeitung zu. Es war typisch für mich, daß ich winkte, und typisch für den Berg von einem Mann, daß er es unterließ. Er bedachte mich jedoch mit einem kühlen, großstädtischen Nicken. Grimmig bis ins Mark. Genau, was mir der Arzt verschrieben hatte.
Ich brachte Sampson aufs laufende, während wir vom Flughafen nach Chapel Hill fuhren.
Ich mußte die Gegend am Wykagil River erkunden. Es war nur eine weitere Vermutung, aber sie konnte zu etwas führen… zum Beispiel zum Ort des »verschwundenen Hauses«. Ich hatte mir die Hilfe von Dr. Louis Freed besorgt, einem Mentor und ehemaligen Lehrer von Seth Samuel. Dr. Freed war ein bekannter schwarzer Historiker, spezialisiert auf
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