Patterson, James - Alex Cross 03 - Sonne, Mord und Sterne
ich, dass es nicht Damon war, aber der Anblick traf mich wie ein brutaler Schlag in die Magengrube. Mir stockte der Atem. Ich keuchte. Grausamkeit wird durch Tränen nicht gelindert. Diese Lektion hatte ich inzwischen längst gelernt.
Ich kniete mich hin und beugte mich über den ermordeten Jungen. Es sah aus, als würde er schlafen. Aber nicht friedlich, sondern von einem schrecklichen Albtraum geplagt. Jemand hatte dem Jungen die Augen geschlossen. Ich fragte mich, ob es der Mörder gewesen war, glaubte es aber nicht. Wahrscheinlich war es das Werk eines guten Samariters oder eines warmherzigen, aber unachtsamen Polizisten. Der kleine Junge trug einen weiten grauen Jogginganzug mit Löchern an den Knien und alte Turnschuhe. Der tödliche Schlag des Mörders hatte seine rechte Gesichtshälfte buchstäblich zerfleischt – genau wie bei Shanelle. Ich sah gezackte Löcher im Fleisch. Und Tränen. Unter dem Kopf hatte sich eine rote Blutpfütze gebildet.
Der Wahnsinnige zerstört gern schöne Dinge. Der Gedanke brachte mich auf eine Idee. Ist der Mörder selbst vielleicht missgestaltet? Körperlich? Gefühlsmäßig? Vielleicht beides.
Warum hasst er kleine Kinder so sehr? Warum bringt er sie in der Nähe der Sojourner Truth School um?
Ich öffnete die Augen des kleinen Jungen. Das Kind starrte mich an. Ich weiß nicht, warum ich es tat. Ich musste seine Augen sehen.
25.
»Dr. Cross...Dr. Cross ... Ich kenne den Jungen«, sagte eine zitternde Stimme. »Er geht auf unsere Grundschule und heißt Vernon Wheatley.«
Ich schaute auf. Mrs. Johnson, die Rektorin von Damons Schule. Mühsam unterdrückte sie ein Schluchzen.
Sie ist noch zäher als du, Daddy. Das hatte Damon zu mir gesagt. Vielleicht hatte er Recht. Die Rektorin würde nicht weinen. Sie erlaubte sich keine Tränen.
Die Polizeiärztin stand neben Mrs. Johnson. Ich kannte auch sie. Janine Prestegard war eine Weiße, ungefähr so alt wie Mrs. Johnson. Mitte dreißig – mehr oder weniger. Die Frauen hatten sich unterhalten, Mutmaßungen ausgetauscht und sich wahrscheinlich gegenseitig Trost zugesprochen.
Welche Anziehungskraft hatte die Sojourner Truth School? Warum gerade diese Schule? Warum Damons Schule? Shanelle Green und jetzt Vernon Wheatley. Was wusste die Rektorin? Wusste sie überhaupt etwas? Ob sie helfen konnte, diese schrecklichen Morde aufzuklären? Sie hatte beide Opfer gekannt.
Die Polizeiärztin ordnete eine Obduktion an, um die genaue Todesursache festzustellen. Die entsetzliche Gewalttätigkeit gegen das Kind hatte sie sichtlich erschüttert. Und die Obduktion eines ermordeten Kindes muss die Hölle sein.
Zwei Detectives von der örtlichen Dienststelle warteten in der Nähe. Ebenso die Leichenfahrer. Alles am Tatort war so still, so traurig, so grauenvoll. Es gibt nichts Schlimmeres als den Mord an einem Kind. Jedenfalls nichts, was ich gesehen habe. Ich erinnere mich an jeden einzelnen, mit dem ich zu tun gehabt habe. Sampson hält mir manchmal vor, ich sei zu sensibel für einen Detective der Mordkommission. Ich halte ihm entgegen, dass jeder Detective so sensibel und menschlich wie möglich sein sollte.
Ich richtete mich zu voller Größe auf. Mit einem Meter siebenundachtzig war ich nur wenig größer als Mrs. Johnson.
»Sie waren beide Male am Tatort der Morde«, sagte ich zu ihr. »Wohnen Sie hier in der Nähe?«
Sie schüttelte den Kopf. Dann blickte sie mich fest an. Ihre Augen waren sehr ausdrucksstark, groß und rund. Sie hielten meinen Blick fest, ließen ihn nicht los. »Ich kenne viele Leute in dieser Gegend. Jemand hat mich zu Hause angerufen. Ich solle wissen, was geschehen sei. Ich bin hier in der Nähe aufgewachsen, in Eastern Market«, gab sie bereitwillig Auskunft. »Es ist derselbe Mörder, nicht wahr?«
Ich beantwortete ihre Frage nicht. »Vielleicht muss ich später mit Ihnen über die Morde sprechen«, sagte ich. »Vielleicht müssen wir auch noch einmal mit einigen Schülern reden. Aber nur, wenn es unbedingt nötig ist. Sie und die Kinder haben schon genug durchgemacht. Danke für Ihre Anteilnahme. Tut mir Leid wegen Vernon Wheatley.«
Mrs. Johnson nickte und blickte mich weiterhin mit ihren unglaublich durchdringenden Augen an. Wer sind Sie eigentlich?, schienen sie zu fragen. Sie waren auch beide Male am Tatort.
»Wie können Sie diese Arbeit tun?«, stieß sie plötzlich hervor.
Die Frage kam völlig unerwartet und verwunderte mich. Eigentlich hätte ich sie als taktlos empfinden müssen, aber dem war
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