Patterson, James - Alex Cross 03 - Sonne, Mord und Sterne
fragte schließlich jemand.
Jack und Jill hatten uns gefilmt! Das war der erste Schock an diesem Abend. Sie hatten vor ein paar Tagen tatsächlich die Polizisten vor Senator Fitzpatricks Apartment aufgenommen. Jack und Jill waren unter den Schaulustigen gewesen, den Gaffern, die jedes Mal erscheinen, wenn ein Rettungswagen auftaucht.
Der Film war eine nervtötende Collage im Stil einer Dokumentarsendung, hauptsächlich in Schwarz-Weiß; nur wenige Abschnitte waren in Farbe gedreht. Zur Eröffnung gab es Bilder aus verschiedenen Blickrichtungen, gefilmt vor dem Apartmentkomplex Senator Fitzpatricks. Es war ein gut gemachter Studentenfilm, aber ein bisschen zu künstlerisch angehaucht. Dann erschien etwas Unerwartetes auf dem Bildschirm. Etwas Packendes. Grässliches .
Die Mörder hatten die letzten Augenblicke im Leben Senator Fitzpatricks gefilmt – Sekunden, ehe er ermordet wurde, wie ich vermutete. Es gab bedrückende Bilder des lebenden Senators. Und dann wurde es noch schlimmer.
Wir sahen gestochen scharfe Aufnahmen von Daniel Fitzpatrick: nackt und mit Handschellen ans Bett gefesselt. Wir hörten seine Stimme. »Bitte, tun Sie das nicht«, flehte er seine Mörder an. Dann hörten wir den Abzug klicken. Der Schuss wurde keine fünf Zentimeter von Fitzpatricks rechtem Ohr abgegeben. Dann dröhnte ein zweiter Schuss. Der Kopf des Senators explodierte. Die Zuschauer rangen nach Atem bei diesen grauenvollen Bildern und den Geräuschen, die Fitzpatrick in die Ewigkeit befördert hatten.
»O Gott!«, schrie eine Frau. Mehrere Leute hatten das Gesicht vom Bildschirm abgewendet. Andere hielten sich die Augen zu. Ich guckte hin. Ich durfte nichts verpassen. Das alles waren entscheidend wichtige Informationen, wenn ich verstehen wollte. Dieser Film war wertvoller als sämtliche DNAAnalysen, serologischen Untersuchungen und Fingerabdrücke.
Plötzlich, auf erschreckende Weise, wechselten Ton und Inhalt des Films. Nach dem grässlichen Mord an Fitzpatrick folgten Aufnahmen normaler Menschen auf Straßen in Groß- und Kleinstädten, die nicht zu identifizieren waren. Mehrere Leute winkten mit strahlendem Lächeln in die Kamera, die meisten jedoch schienen unbeeindruckt, gefilmt zu werden – wahrscheinlich von Jack und Jill.
Immer wieder wechselten beim Film Schwarz-Weiß und Farbe, aber keineswegs ohne Ordnungsprinzip. Wer auch immer den Film am Schneidetisch bearbeitet hatte, war ziemlich talentiert.
Einer der beiden ist Künstler oder hat zumindest starke künstlerische Neigungen, dachte ich und machte mir geistig eine Notiz. Was für ein Künstler würde sich auf eine solche Sache einlassen? Ich kannte verschiedene Theorien über die Verknüpfungen zwischen Kreativität und psychopathischer Veranlagung. Bundy, Dahmer und Charles Manson konnte man als »kreative« Mörder bezeichnen. Andererseits hatten Richard Wagner, Degas, Jean Genet und viele andere Künstler sich im Leben durchaus wie Psychopathen benommen und trotzdem niemanden getötet.
Dann, ungefähr fünfundsechzig Sekunden nach Filmbeginn, setzten die Stimmen ein. Wir hörten zwei: einen Mann und eine Frau. Etwas Dramatisches geschah, das uns alle völlig überraschte.
Jack und Jill hatten beschlossen, zu uns zu sprechen. Es war beinahe so, als wären die Mörder hier im Studio. Sie wechselten sich im Lauf der Filmcollage ab, doch beide Stimmen waren elektronisch gefiltert, damit man sie nicht identifizieren konnte. Ich beschloss, mich sofort an die Stimmenanalyse zu machen, sobald die Show vorüber war. Aber noch war sie nicht vorüber.
Jack: Seit langer Zeit haben Menschen wie wir stillschweigend die Ungerechtigkeiten ertragen, die von der Führungsschicht dieses Landes begangen wurden. Wir waren geduldig, haben stumm gelitten und in den meisten Fällen geschwiegen. Sie kennen den zynischen Begriff – wir haben es ausgesessen . Wir haben darauf gewartet, dass das amerikanische System der Kontrollen und des Gleichgewichts greift und für uns arbeitet. Aber das System hat seit langer Zeit nicht mehr funktioniert. Wie es scheint, funktioniert überhaupt nichts mehr. Kann irgendjemand mir ernsthaft widersprechen?
Jill: Skrupellose Menschen, beispielsweise Anwälte und Geschäftsleute, haben die Fähigkeit entwickelt, unsere Ahnungslosigkeit und unseren guten Willen auszunutzen – vor allem unsere geistige Großzügigkeit. Lassen Sie mich diesen wichtigen Gedanken wiederholen: Äußerst skrupellose Menschen haben gelernt, unsere Ahnungslosigkeit,
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