Patterson, James - Alex Cross 03 - Sonne, Mord und Sterne
bedeutete: »Gehe im Guten.« Ein zarter Hinweis?
Worte an den Weisen?
»Ich bin froh, dass Sie ein Bier trinken möchten«, meinte
Christine und lächelte. »Weil es mir zeigt, dass Sie zumindest
kurz davor sind, den Arbeitstag zu beenden. Es ist fast halb elf.
Wissen Sie das? Wie spät ist es auf Ihrer Uhr?«
»Ist es schon so spät? Das tut mir ehrlich Leid«, sagte ich.
»Wir können das auch morgen erledigen.«
Christine brachte mir ein Heineken. Sie trank Eistee. Dann
setzte sie sich mir gegenüber an eine Theke, welche die Küche
unterteilte. Das Haus war keineswegs in der Unordnung, vor
der sie mich beim Hereinkommen gewarnt hatte. Es war gemütlich, heimelig. An einer Wand hingen viele niedliche Bilder
von der Truth School. Dann fiel mir ein wunderschönes Batiktuch in einem Keilrahmen ins Auge.
»Also, um was geht’s, Doc?«, fragte sie. »Was führt Sie auf
die andere Seite des Beltway?«
»Ganz ehrlich? Ich konnte nicht schlafen und habe eine Spazierfahrt gemacht. Ich bin in diese Richtung gefahren. Dann
hatte ich die zündende Idee, wir könnten vielleicht ein paar
Punkte des Falles gemeinsam durchsprechen ... oder vielleicht
brauchte ich nur jemand, mit dem ich reden konnte«, gestand ich schließlich. Sofort fühlte ich mich gut. Jedenfalls ein biss
chen besser.
»Ja, sicher, das ist in Ordnung. Das kann ich Ihnen nachfühlen. Ich konnte auch nicht schlafen«, sagte sie. »Seit dem Mord
an Shanelle bin ich furchtbar verspannt. Und dann der arme
Vernon Wheatley. Ich habe gerade die Pflanzen beschnitten.
Im Hintergrund lief Emergency Room im Fernsehen. Ziemlich
erbärmlich, finden Sie nicht auch?«
»Eigentlich nicht. Emergency Room ist eine prima Serie.
Übrigens – Sie haben ein wunderschönes Haus.«
Von der Küche aus konnte ich den Fernseher im Wohnzimmer sehen. Ein Mammut-Sony, in dem eine Folge des Ärztedramas lief. Ein schwarzer Retriever, ein junger Hund, kam
von der Treppe mit dem haferflockenfarbenen Teppich durch
einen schmalen Flur ins Zimmer getrottet. »Das ist Meg«, sagte
Christine. »Sie hat sich auch Emergency Room angeschaut.
Meg steht auf Arztserien.« Die Hündin beschnupperte mich.
Dann leckte sie mir die Hand.
Ich weiß nicht, warum ich Christine das erzählen wollte,
aber ich tat es.
»Manchmal spiele ich nachts Klavier. Wir haben einen Wintergarten am Haus. Deshalb stört der Krach die Kinder nicht
allzu sehr. Oder sie haben gelernt, trotz des Lärms zu schlafen«, sagte ich. »Ein bisschen Gershwin, Brahms, Jellyroll
Morton nachts um eins tut keinem weh.«
Christine Johnson lächelte und schien sich bei dieser Art Unterhaltung wohl zu fühlen. Sie war ein sehr selbstsicherer
Mensch, der sehr in sich ruhte. Das war mir schon am ersten
Abend aufgefallen. Ich hatte es sofort gespürt.
»Damon hat in der Schule ein paarmal Ihr nächtliches Klavierspiel erwähnt. Wissen Sie, gelegentlich gibt er bei den Lehrern mit Ihnen an. Er ist ein sehr netter Junge und überaus gescheit. Wir alle mögen ihn sehr.«
»Danke. Ich mag ihn auch sehr. Er hat Glück, dass wir die
Sojourner Truth School in der Nähe haben.«
»Ja, das stimmt«, pflichtete Christine mir bei. »Viele Schulen in Washington sind eine Schande. Jämmerlich. Die Truth
ist ein Glücksfall. Ein kleines Wunder für die Kinder.« » Ihr Wunder?«, fragte ich.
»Nein, nein, nein. Viele Leute sind dafür verantwortlich, ich
am wenigsten. Die Kanzlei meines Mannes hat ein bisschen
›Schulgeld‹ beigesteuert. Ich helfe nur, das Wunder am Leben
zu erhalten. Ich glaube an Wunder. Wie lange ist es her, seit
Ihre Frau gestorben ist, Alex?« Urplötzlich hatte sie den Gang
gewechselt. Doch Christine Johnson hatte die Frage ganz beiläufig und ganz natürlich gestellt, obwohl ihr Interesse sehr viel
tiefer ging. Trotzdem war ich verblüfft. Ich spürte, dass ich
nicht antworten musste, wenn ich nicht wollte.
»Es werden fünf Jahre«, sagte ich. Dann aber blieb mir ein
wenig die Luft weg. »Im März, genau gesagt. Jannie war noch
ein kleines Baby, nicht mal ein Jahr alt. Ich erinnere mich, wie
ich abends hereingekommen bin und sie im Arm gehalten habe.
Sie hatte keine Ahnung, dass sie für mich der einzige Trost auf
der Welt war.«
Allmählich fühlten wir beide uns wohl dabei, in der Küche
zu plaudern. Wir wurden immer offener, zutraulicher. Anfangs
war die Unterhaltung unverfänglich. Dann wurde das Gespräch
ernster. Thema: der Sojourner-Truth-Killer.
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