Patterson, James - Alex Cross 04 - Wenn Die Mäuse Katzen Jagen
an seine Namen für sie: »Null«, »hirnlose Hausfrau«, »blonde Kuh«.
»Was zum Teufel geht im Kopf von diesem widerlichen, erbärmlichen Scheißkerl vor? Verstehst du das?« murmelte Sampson durch das Taschentuch vor seinem Mund.
Ich glaubte mich mit psychotischen Wutphasen auszukeimen, und ich hatte etliche solcher Phasen bei Soneji erlebt, aber auf die letzten Tage war ich durch nichts vorbereitet gewesen. Die augenblicklichen Morde waren extrem und blutig. Zudem häuften sie sich, geschahen viel zu regelmäßig.
Ich hatte den bösen Verdacht, daß Soneji seine Wut nicht mehr abschalten konnte, auch nicht nach einem neuen Mord. Keiner der Morde befriedigte mehr seine Bedürfnisse.
»O Gott!« Ich rappelte mich auf. »John, sein kleines Mädchen«, sagte ich. »Seine Tochter Roni. Was hat er mit ihr gemacht?«
Wir durchsuchten das baumbestandene Grundstück, zu dem an der Nordostseite des Hauses auch eine Gruppe krummer, windgebeugter Nadelbäume gehörte. Keine Roni. Keine weiteren Leichen, keine grob verstümmelten Körperteile, keine neuen grausigen Überraschungen. Wir suchten in der Doppelgarage nach dem Mädchen. Dann in dem engen, muffigen Verschlag unter der hinteren Veranda. Wir sahen in den drei Mülltonnen nach, die ordentlich aufgereiht neben der Garage standen. Nirgends fanden wir sie. Wo war Roni Murphy? Hatte er sie mitgenommen? Hatte Soneji seine Tochter entführt?
Ich ging zum Haus zurück, Sampson folgte mir. Ich schlug die Glasscheibe der Küchentür ein, schloß auf und stürmte ins Haus. Ich befürchtete das Schlimmste. Gab es womöglich wieder ein ermordetes Kind?
»Immer mit der Ruhe, Mann. Laß es langsam angehen hier drin«, flüsterte Sampson hinter mir.
Er wußte, wie es in mir aussah, wenn Kinder betroffen waren. Er witterte außerdem, daß das Ganze eine Falle sein könnte, die Soneji uns gestellt hatte. Es war ein perfekter Ort dafür.
»Roni!« rief ich. »Roni, bist du hier? Roni, kannst du mich hören?«
Ich erinnerte mich vom letzten Mal, als ich in diesem Haus gewesen war, an ihr Gesicht. Ich hätte sie zeichnen können, wenn ich es gemußt hätte.
Gary hatte mir einmal erzählt, Roni sei das einzig Wichtige in seinem Leben, das einzig Gute, was er je getan habe. Damals hatte ich ihm geglaubt. Vermutlich projizierte ich meine eigenen Gefühle für meine Kinder auf ihn. Vielleicht hatte ich mir eingeredet, Soneji habe so etwas wie ein Gewissen, weil ich es glauben wollte.
»Roni! Hier ist die Polizei. Du kannst jetzt rauskommen, Schatz. Roni Murphy, bist du hier? Roni!«
»Roni!« stimmte Sampson ein. Seine tiefe Stimme hallte genauso laut wie meine, vielleicht sogar noch lauter.
Sampson und ich durchsuchten das Erdgeschoß, machten jede Tür und jeden Schrank auf. Wir riefen ihren Namen. Lieber Gott, hilf uns, betete ich jetzt. Jedenfalls war es eine Art Gebet. O Gary – nicht die eigene kleine Tochter! Du mußt sie nicht umbringen, um zu zeigen, wie böse und zornig du bist. Wir haben die Botschaft bekommen. Wir haben verstanden.
Ich lief nach oben, nahm dabei immer zwei knarrende Holzstufen auf einmal. Sampson war dicht hinter mir, fast wie ein Schatten. Normalerweise ist es seinem Gesicht nicht anzusehen, aber er regt sich genauso auf wie ich. Wir sind beide noch nicht abgestumpft. Ich konnte es seiner Stimme anhören, an seinem flachen Atem erkennen. »Roni! Bist du hier oben? Versteckst du dich irgendwo?« rief er.
»Roni! Hier ist die Polizei. Du bist jetzt in Sicherheit, Roni! Du kannst herauskommen.«
Jemand hatte das Elternschlafzimmer durchwühlt. Jemand war hier eingedrungen, hatte den Raum geschändet, jedes Möbelstück kaputtgeschlagen, Betten und Kommoden umgekippt.
»Erinnerst du dich an sie, John?« fragte ich, als wir in den übrigen Zimmern nachsahen.
»Ich erinnere mich ziemlich gut an sie«, sagte Sampson mit leiser Stimme. »Niedliches kleines Mädchen.«
»O nein, neiiiin …«
Plötzlich rannte ich den Flur entlang, die Treppe hinunter. Ich raste durch die Küche, riß die Tür zwischen dem Kühlschrank und einem vierflammigen Gasherd auf. Wir stürzten beide hinunter ins Untergeschoß, in den Keller des Hauses.
Mein Herz spielte verrückt, es schlug, hämmerte und dröhnte laut in meiner Brust. Ich wollte nicht hier sein, nicht schon wieder eines von Sonejis Werken sehen, keine seiner bösen Überraschungen erleben.
Der Keller seines Hauses.
Der symbolische Ort aller Alpträume aus Garys Kindheit.
Der
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