Patterson, James - Alex Cross 04 - Wenn Die Mäuse Katzen Jagen
Keller.
Blut.
Züge.
Der Keller im Haus der Murphys war klein und ordentlich. Ich schaute mich um. Die Züge waren verschwunden! Hier unten war eine Spielzeugeisenbahn gewesen, als wir das Haus zum erstenmal betreten hatten.
Ich entdeckte jedoch keinerlei Hinweis auf das Mädchen. Nichts wirkte fehl am Platz. Wir öffneten Werkzeugschränke. Sampson riß die Waschmaschine auf, dann den Wäschetrockner. Neben dem Wasserboiler und einem Spülbecken aus Fiberglas befand sich eine ungestrichene Holztür. Keinerlei Blutspuren im Becken, keine blutgetränkten Kleidungsstücke. Führte die Tür ins Freie? War das kleine Mädchen vielleicht weggelaufen, als sein Vater ins Haus kam?
Der Schrank! Ich riß die Tür auf.
Roni Murphy war mit einem Seil gefesselt und mit alten Lumpen geknebelt. Ihre blauen Augen waren vor Angst weit aufgerissen. Aber sie lebte!
Sie zitterte heftig. Er hatte sie nicht umgebracht, aber er hatte ihre Kindheit zerstört, genau wie seine Kindheit zerstört worden war. Vor ein paar Jahren hatte er dasselbe mit einem Mädchen namens Maggie Rose getan.
»O Liebes«, flüsterte ich, als ich sie losband und ihr den Stoffknebel herausnahm, den ihr Vater ihr in den Mund gestopft hatte. »Jetzt ist alles in Ordnung. Alles ist okay, Roni. Alles wird wieder gut.«
Was ich nicht sagte, war: Dein Vater hat dich so lieb, daß er dich nicht umgebracht hat – aber er will alles vernichten und alle anderen umbringen.
»Es ist okay, alles ist in Ordnung, Baby. Alles bestens«, belog ich das arme kleine Mädchen. »Jetzt ist alles okay.«
Sicher ist es das.
34.
Vor langer, langer Zeit hatte Nana Mama mir das Klavierspielen beigebracht. Damals stand das alte Klavier wie eine ständige Einladung zum Musizieren in unserem Wohnzimmer. An einem Nachmittag nach der Schule hörte sie, wie ich versuchte, einen Boogie-Woogie zu spielen. Ich war damals elf Jahre alt, aber ich erinnere mich so gut daran, als wäre es gestern gewesen.
Nana schwebte herein wie eine milde Brise und setzte sich neben mich auf die Klavierbank, genauso, wie ich es jetzt bei Jannie und Damon mache.
»Ich glaube, mit Cool Jazz bist du deinem Alter noch ein bißchen voraus, Alex. Ich zeige dir was Schönes. Ich werde dir zeigen, womit du deine Musikerlaufbahn anfangen könntest.«
Sie brachte mich dazu, täglich die Czerny-Etüden zu üben, bis ich spielen konnte und Mozart, Beethoven, Händel und Haydn zu schätzen wußte – alles auf Nana Mamas Betreiben. Sie gab mir Klavierunterricht von meinem elften bis zum achtzehnten Lebensjahr, bis ich in Georgetown aufs College ging und danach die John Hopkins University besuchte. Inzwischen konnte ich Cool Jazz spielen, wußte, was ich spielte, wußte sogar, warum mir gefiel, was mir gefiel.
Als ich an diesem Abend sehr spät aus Delaware nach Hause kam, spielte Nana Mama im Wintergarten Klavier. So hatte ich sie seit vielen Jahren nicht mehr spielen hören. Sie hörte mich nicht kommen, deshalb blieb ich im Türrahmen stehen und beobachtete sie eine Weile. Sie spielte Mozart, und sie hatte noch immer ein Gefühl für die Musik, die sie liebte. Sie hatte einmal zu mir gesagt, wie traurig sie es finde, daß niemand mehr wisse, wo Mozart begraben sei.
Als sie zu Ende gespielt hatte, flüsterte ich: »Bravo! Das war einfach wunderschön.«
Nana drehte sich zu mir um.
»Törichte alte Frau«, sagte sie und wischte eine Träne weg, die ich von meinem Platz aus nicht hatte sehen können.
»Überhaupt nicht töricht«, sagte ich. Ich setzte mich zu ihr auf die Klavierbank und nahm sie in die Arme. »Alt ja, wirklich alt und griesgrämig, aber keinesfalls töricht.«
»Ich habe eben an den dritten Satz aus Mozarts Klavierkonzert Nummer einundzwanzig gedacht«, sagte sie, »und dann habe ich mich daran erinnert, wie gut ich den vor langer, langer Zeit spielen konnte.« Sie seufzte. »Also habe ich mich mal richtig schön ausgeweint. Es war ein wirklich gutes Gefühl.«
»Tut mir leid, daß ich gestört habe«, sagte ich und hielt sie weiter fest in den Armen.
»Ich liebe dich, Alex«, flüsterte meine Großmutter. »Kannst du noch ›Clair de lune‹ spielen? Spiel Debussy für mich.«
Und so spielte ich, und Nana Mama saß dicht neben mir.
35.
Am folgenden Morgen ging die Sisyphusarbeit weiter. Als erstes faxte mir Kyle mehrere Artikel über seinen Agenten Thomas Pierce. Die Artikel stammten alle aus Städten, in denen Mr. Smith Morde begangen hatte: Atlanta, St. Louis, Seattle, San Francisco,
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