Patterson, James - Alex Cross 04 - Wenn Die Mäuse Katzen Jagen
gefaßt werden? Vielleicht, aber im Grunde spielte das keine Rolle. Das Spiel würde auch ohne ihn bis zum bitteren Ende weitergehen. Das war das Schöne daran, das Verteufelte an dem, was er getan hatte.
Gary Soneji stieg im Keller des bekannten Manhattaner Krankenhauses in einen Aufzug aus rostfreiem Edelstahl. In der engen Kabine befanden sich außer ihm noch zwei Pfleger, und Soneji bekam einen Moment lang Paranoia. Möglicherweise waren sie New Yorker Cops, die verdeckt ermittelten. Die New Yorker Polizei hatte sogar ein Büro im Haupttrakt des Krankenhauses, auch unter »normalen« Umständen. Bellevue. Herrgott, was für ein sensationelles Irrenhaus. Ein Hospital, in dem sich ein Polizeirevier befand.
Er beäugte die Pfleger mit dem lässigen, desinteressierten Blick des coolen Großstädters. Das konnten keine Polizisten sein, dann würden sie nicht so blöd aussehen. Sie waren das, was sie zu sein schienen – Krankenhausschwachköpfe mit müden Bewegungen und trägen Gedanken.
Einer schob eine Edelstahlrollbahre mit zwei kaputten Rädern. Es war ein Wunder, daß überhaupt je ein Patient ein Krankenhaus in New York City lebendig verließ. Die Krankenhäuser wurden hier mit etwa demselben Personal wie ein McDonald’s-Restaurant geführt, vermutlich mit noch beschränkterem. Er kannte einen Patienten, der das Bellevue nicht lebendig verlassen würde. In den Nachrichten hieß es, Shareef Thomas werde während seiner Behandlung hier festgehalten. Thomas würde leiden, bevor er das sogenannte »Tal der Tränen« verließ, ihm stand eine Welt des Leidens bevor.
Gary Soneji verließ den Aufzug im ersten Stock. Er seufzte vor Erleichterung. Die beiden Pfleger gingen weiter ihrer Arbeit nach, sie waren keine Cops. Nein, sie waren blöder, absolute Blödmänner.
Er sah überall Krücken, Rollstühle, Gehhilfen aus Metall, die Krankenhausutensilien erinnerten ihn an seine Sterblichkeit. Die Flure im ersten Stock waren in einem gebrochenen Weiß gestrichen, die Türen und Heizkörper in einem Rosaton, der an ausgelutschten Kaugummi erinnerte. Im hinteren Teil der Etage befand sich eine seltsame Cafeteria, trüb beleuchtet wie ein UBahn-Schacht. Wer in diesem Lokal aß, sollte unverzüglich im Bellevue in die geschlossene Abteilung gesteckt werden!
Soneji erhaschte sein Spiegelbild in einer Edelstahlsäule. Der Herr der tausend Gesichter! Es stimmte. Jetzt hätte ihn selbst seine Stiefmutter nicht erkannt, und falls doch, hätte sie sich ihre dämlichen Lungen aus dem Leib geschrien. Sie hätte gewußt, daß er den ganzen Weg zur Hölle gekommen war, um sie zu holen.
Er ging den Flur entlang und sang sehr leise im bekannten Reggae-Rhythmus: »I shot the Shareef, but I did not shoot die deputy.«
Niemand beachtete ihn. Gary Soneji paßte bestens ins Bellevue.
54.
Soneji hatte ein perfektes Gedächtnis, deshalb würde er sich später an alle Einzelheiten dieses Morgens erinnern. Er würde den ganzen Vorgang mit unglaublicher Detailtreue wieder vor sich abspielen lassen können, das galt für alle seine Morde. Er erfaßte die schmalen Flure mit den hohen Decken, als hätte er sich eine Überwachungskamera auf den Kopf montiert. Seine Konzentrationsstärke verschaffte ihm einen Riesenvorteil: Alles, was um ihn herum vorging, war ihm auf fast übernatürliche Weise bewußt.
Ein Wachmann quasselte vor der Cafeteria mit zwei jungen Schwarzen. Die waren allesamt geistesgestört, vor allem der Spielzeugpolizist. Keinerlei Bedrohung von dieser Seite.
Überall hüpften alberne Baseballmützen herum. New York Yankees. San Francisco Giants. San Jose Sharks. Keiner der Mützenträger sah aus, als könne er sich beim Baseballspielen mit Ruhm bekleckern, schon gar nicht ihm etwas tun oder ihn aufhalten.
Weiter vorn befand sich die Polizeistation des Krankenhauses, es brannte jedoch kein Licht. Im Moment war niemand zu Hause. Wo waren die Krankenhauscops? Warteten sie irgendwo auf ihn? Warum sah er keinen von ihnen? War das ein erstes Anzeichen für eventuelle Schwierigkeiten?
Auf einem Schild am Patientenaufzug stand: Ausweis erforderlich. Soneji hielt den seinen bereit, für die heutige Maskerade war er Francis Michael Nicolo, Krankenpfleger.
An der Wand hing ein gerahmtes Plakat: Rechte und Pflichten der Patienten. Wohin er auch schaute, sah er Schilder hinter trübem Plexiglas. Es war schlimmer als auf einem New Yorker Highway: Radiologie, Urologie, Hämatologie. Ich bin auch krank, wollte Soneji den Verantwortlichen
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