Patterson, James - Alex Cross 04 - Wenn Die Mäuse Katzen Jagen
Mitternacht durch die Nebenstraßen des sechsten Arrondissements nach Hause.
Die schmalen Straßen waren still und leer. Um diese Tageszeit sammelte er liebend gern seine Gedanken oder versuchte auch manchmal, an überhaupt nichts zu denken. Abel Sante sinnierte über den Tod einer jungen Frau, die heute gestorben war, eine Patientin von ihm, sechsundzwanzig Jahre alt. Sie hatte einen liebevollen Mann und zwei hübsche Töchter. Abel Sante sah den Tod aus einer Perspektive, die er für richtig hielt: Warum sollten das Verlassen der Welt und die Wiedervereinigung mit dem Kosmos furchterregender sein als das Zur-WeltKommen, das überhaupt nicht furchterregend war?
Dr. Sante wußte nicht, woher der Mann – ein Stadtstreicher in einer schmutzigen grauen Jacke und zerfetzten, ausgebeulten Jeans – plötzlich aufgetaucht war. Plötzlich war er neben ihm, hing fast an seinem linken Ellbogen.
»Schön«, sagte der Mann.
»Entschuldigen Sie, wie bitte?« fragte Abel Sante erschrocken und löste sich hastig von seinen Gedanken.
»Es ist eine schöne Nacht, und unsere Stadt ist wirklich geeignet für einen späten Spaziergang.«
»Stimmt. War nett, Sie kennenzulernen«, sagte Sante zu dem Stadtstreicher. Ihm war aufgefallen, daß das Französisch des Mannes einen leichten Akzent hatte. Vielleicht war er Engländer oder Amerikaner.
»Sie hätten ihre Wohnung nicht verlassen sollen, sie hätten über Nacht bleiben sollen. Ein Gentleman bleibt immer über Nacht – natürlich nur, wenn er nicht zum Gehen aufgefordert wird.«
Dr. Abel Santes Rücken und Hals versteiften sich. Er nahm die Hände aus den Hosentaschen. Plötzlich hatte er Angst, große Angst. Er stieß den Stadtstreicher mit dem linken Ellbogen weg.
»Was soll das heißen? Verschwinden Sie!«
»Ich rede von Ihnen und Regina. Regina Becker, die Malerin. Ihre Arbeiten sind nicht übel, aber leider nicht gut genug.«
»Scheren Sie sich zum Teufel!«
Abel Sante beschleunigte den Schritt. Er war nur wenige Straßen von zu Hause entfernt. Der andere, der Stadtstreicher, hielt mühelos mit. Er war größer und athletischer, als Sante zunächst bemerkt hatte.
»Sie hätten ihr Kinder schenken sollen. Das ist meine Meinung.«
»Hauen Sie ab! Weg!«
Plötzlich hatte Sante beide Fäuste gehoben und fest geballt. Das war doch hirnrissig! Er war bereit zu kämpfen, wenn es sein mußte. Er hatte sich seit zwanzig Jahren nicht mehr geprügelt, aber er war kräftig und gut in Form.
Der Stadtstreicher holte aus und stieß ihn zu Boden, mühelos, als sei das überhaupt nichts. Dr. Santes Puls raste. Er konnte auf dem linken Auge, an dem er getroffen worden war, nicht mehr richtig sehen.
»Sind Sie total verrückt? Haben Sie den Verstand verloren?« schrie er den Mann an, der plötzlich stark und eindrucksvoll aussah, sogar in der dreckigen Kleidung.
»Ja, natürlich«, antwortete der Mann. »Natürlich habe ich den Verstand verloren. Ich bin Mr. Smith – und Sie sind der nächste.«
53.
Gary Soneji rannte ähnlich einer wahrhaft grausigen Großstadtratte durch die tiefen, finsteren Tunnel, die sich wie Gedärme unter dem New Yorker Bellevue Hospital hindurchschlängeln. Von dem widerlichen Gestank nach getrocknetem Blut und Desinfektionsmitteln wurde ihm übel. Er konnte die Mahnungen an Krankheit und Tod, die ihn hier umgaben, nicht ausstehen.
Eigentlich war das jedoch unwichtig, denn er war heute in der richtigen Stimmung. Er stand unter Strom, hatte abgehoben. Er war der Tod. Und der Tod war nicht auf Urlaub in New York.
Er hatte sich für seinen großen Morgen perfekt ausstaffiert: frisch gebügelte weiße Hosen, weißer Arztkittel, weiße Turnschuhe, ein laminierter Krankenhausausweis an einer Kette aus silbrigen Perlen um den Hals. Er war zur Morgenvisite hier. Bellevue. Genau so sah seine Vorstellung von einer Visite aus!
Es gab keine Möglichkeit, irgend etwas zum Stillstand zu bringen: seinen Zug aus der Hölle, sein unabänderliches Schicksal, sein letztes Hurra. Niemand konnte das alles zum Stillstand bringen, weil niemand je erraten würde, wohin der letzte Zug fuhr. Nur er wußte das, nur Soneji selbst konnte es verhindern.
Er fragte sich, wieviel von dem Puzzle Cross schon zusammengesetzt hatte. Cross spielte als Denker nicht ganz in seiner Liga, aber der Psychologe und Detective besaß auf bestimmten Spezialgebieten einige primitive Instinkte. Vielleicht unterschätzte er Dr. Cross, wie er es schon einmal getan hatte. Konnte er diesmal wieder
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