Patty Janes Frisörsalon
Kragen. »Es war schrecklich hier.«
»Warte einen Moment, Harriet«, sagte Avel, sich unter ihrer Last windend. »Du muÃt mich wenigstens atmen lassen.«
»Entschuldige, ich vergesse immer, wie klein du bist.« Sie sprang auf und setzte sich auf einen anderen Stuhl dicht an seine Seite. Sie öffnete eine neue Packung Zigaretten und zündete sich eine an. Mit einem Schlenker ihres Handgelenks löschte sie das Streichholz.
»Ich habe mir furchtbare Sorgen um sie gemacht«, sagte sie, den Rauch tief einziehend. »Heute habe ich sie das erstemal wieder lächeln sehen. Fast eine ganze Woche lang, ich schwörâs: kein Lächeln, kein Lachen.«
»Auch nicht mit dem Kind?«
»Das ist was anderes. Natürlich lächelt eine Mutter ihr neugeborenes Kind an. Ich rede von dem ganz normalen alltäglichen Lächeln.«
Harriet trug ihr Haar zu einem langen Zopf geflochten, der ihren Rücken hinunterhing, und während sie sprach, zog Avel das Band herunter und schob seine Finger durch die dicken Flechten, um sie zu lösen.
»Das tut so gut wie schon lange nichts mehr«, sagte Harriet. Sie saà ganz still, die Augen geschlossen, und genoà die Berührung von Avels kleinen, kräftigen Fingern an ihrer Kopfhaut. Avel neigte sich zu ihr, hielt ihren Kopf und küÃte sie auf den Hals. Sie drückte ihre Zigarette aus. Sie umarmten einander lange und innig, und als sie sich voneinander lösten, kippte Harriet ihren Stuhl nach hinten und zog am Glasknopf einer Küchenschublade.
»Milt Zims hat das gestern vorbeigebracht«, sagte sie und gab Avel einen braunen Umschlag.
Avel las einen Brief, der den Briefkopf der Universität von Minnesota trug:
An alle, die es angeht, d. h. Thor Rolvaags Ehefrau
Mir ist bekannt, daà über Thor Rolvaags Verschwinden Ermittlungen angestellt werden. Er hat die Nacht vor seinem Verschwinden in meiner Wohnung verbracht. Ich glaube nicht, daà das an sich etwas zu bedeuten hat, aber ich fühle mich verpflichtet, es Ihnen mitzuteilen, da es vielleicht wichtiger Bestandteil eines gröÃeren Gesamtbilds ist. Aus beruflichen Gründen kann ich meinen Namen nicht bekanntgeben, aber ich möchte nicht versäumen, Ihnen zu sagen, daà ich Thor sowohl im Unterricht als auch auÃerhalb bemerkenswert fand.
»Thor hatte also eine andere«, flüsterte Avel.
»Mistkerl«, sagte Harriet und zündete sich eine neue Zigarette an.
»Mir hat er kein Wort davon gesagt, Harriet.« Avel hob sein schmales Kinn und hielt es zwischen Daumen und Zeigefinger. »Auf unsere Art waren wir Freunde. Ich hätte gedacht, er würde mir gegenüber etwas durchblicken lassen.«
»Er hat nie etwas durchblicken lassen«, sagte Harriet bitter. »Keinem gegenüber.«
7
IM März wechselten Tauwetter und Frost. Während das Wetter Kapriolen schlug, hielt sich die Stimmung in Patty Janes Wohnung auf einem beständigen Tiefpunkt. Harriet zog in Patty Janes Wohnzimmer; sie schlief auf dem Klubsofa. Jeden Morgen faltete sie Decken und Laken und verstaute sie im Wäscheschrank. Avels Chauffeur, Clayton, brachte die Harfe und schleppte sie fluchend die schmale Hintertreppe hinauf. Harriet stellte einen Konzertplan auf; sie spielte nachmittags um zwei und dann wieder abends um halb acht im Beisein von Patty Jane, die mit dem Kind im Arm in dem voluminösen Plüschsessel saÃ, den Avel gekauft hatte. Zur Musik von Händel oder Debussy stillte Patty Jane die kleine Nora, und danach pflegten Mutter und Kind einzuschlummern. Eine tiefe Zärtlichkeit überkam Harriet, wenn sie ihre Schwester und ihre Nichte so im Schlaf sah, still, mit leicht geöffneten Mündern, und ihr Herz krampfte sich zusammen, wenn sie daran dachte, daà Thor soviel Schönheit einfach verlassen hatte.
Die Welt ihrer Schwester schien sich um eine wacklige Achse zu drehen; gerade hatte es so ausgesehen, als wäre das Schicksal auf Patty Janes Seite, da hatte es sie mit einem Schlag fast ohne Vorwarnung und ganz ohne Gnade niedergestreckt. Gott im Himmel sei Dank, dachte Harriet, daà Avel und Ione hier sind, um zu helfen. Obwohl Avel berichtete, daà seine Schwestern ihn ständig bedrängten, an Aufsichtsratssitzungen und Konferenzen teilzunehmen, bei denen sein Erscheinen »absolut unerläÃlich« sei, schaffte er es, jeden Tag getreulich durch die StraÃen von Minneapolis und St. Paul
Weitere Kostenlose Bücher