Patty Janes Frisörsalon
zu fahren, um nach einem Zeichen, einer Spur, einem einzigen blonden Haar Thor Rolvaags Ausschau zu halten.
Ione tat stark und beständig das Ihrige. Jeden Tag erwachte sie, bevor es dämmerte, und ging in der morgendlichen Dunkelheit zur Kirche, um still in dem leeren Gotteshaus zu sitzen und für ihren Sohn zu beten. Manchmal wünschte sie, die lutherische Kirche hätte sich nicht von der katholischen getrennt; jetzt hätte sie den Trost prächtiger Rituale, die Möglichkeit, für ihren Sohn Kerzen anzuzünden und in einem Beichtstuhl eine gütige Stimme zu hören, die sie von der Schuld an Thors Verschwinden freisprach, gebrauchen können. Sie fühlte sich nicht gänzlich verantwortlich, aber vielleicht hatte sie doch ein wenig dazu beigetragen, daà Thor seine Familie verlassen hatte, ohne eine Spur zu hinterlassen. Sie trug die Schuld wie eine schwere Last.
Doch das Gefühl der Schuld feuerte auch ihre Tatkraft an, bestärkte sie in ihrer Beharrlichkeit und ihrem Versprechen, Patty Jane und ihrer kleinen Enkelin nach Kräften zu helfen.
Nach ihrem täglichen Zwiegespräch mit Gott begab sich Ione wie Avel auf die Suche nach Thor. Einmal, sicher ihn gesehen zu haben, schrie sie laut auf und drückte auf die Hupe ihres Wagens, aber der groÃe Blonde, der sich umdrehte, war ein Teenager, dessen dünner, strähniger Bart nur teilweise ein pickeliges Gesicht verdeckte. Donny Dahl, ihr Arbeitgeber bei Dahls SüÃwaren, war sehr verständnisvoll und gestattete ihr, ihre Arbeitszeiten zu ändern oder manche Stunden ganz ausfallen zu lassen. Ione stellte länger als jeder andere Angestellte für Dahl Konfekt her, und er hatte ihr nie etwas für die ErdnuÃsplitter- und Karameltrüffelrezepte gegeben, die sie eingebracht hatte. Er fühlte sich daher verpflichtet, ihr mit verkürzten Arbeitszeiten entgegenzukommen.
Nach ihrer Suchaktion pflegte Ione die Einkäufe für den Tag zu erledigen, füllte ihren Korb mit frischem Obst und Gemüse, die aus wärmeren Gegenden importiert worden waren, und kaufte Fleisch und Geflügel in einer Metzgerei, deren Boden mit Sägemehl bedeckt war. Sie brachte ihre guÃeisernen Töpfe zu Patty Jane in die Wohnung und kochte kräftige, würzige Suppen. Sie knetete Teig und backte Brote, die es in Vogstads Bäckerei nicht gab: Vollweizen mit Rosinen, Roggen mit Dill und einen schwarzen weichen Pumpernickel. Sie servierte Patty Jane das Mittagessen auf einem Tablett und kam am Spätnachmittag wieder, um das Abendessen zuzubereiten. Sie ging erst, wenn jeder Teller gespült und getrocknet war.
»Ione, bitte, du arbeitest zuviel«, sagte Harriet eines Abends, als Ione den Küchentisch wischte.
»Ãltuch ist doch etwas Herrliches«, meinte Ione. »Eine richtige Wunderfaser, findest du nicht auch?«
»Ich geh Zigaretten kaufen«, sagte Harriet und hielt Iones Mantel hoch. »Läufst du ein Stück mit mir?«
Ione wies zum Wohnzimmer.
»Sie schlafen«, sagte Harriet. »Drei Takte Bach und sie sind weg.«
» Uff-da mayda , so spät ist es schon?«
»Die Zeit fliegt, wenn man den ganzen Tag kocht und putzt«, versetzte Harriet. »Also, komm, Delâs macht in zwanzig Minuten zu.«
Der Abend war vergleichsweise mild. Die Temperatur war immerhin auf minus 6 Grad gestiegen. Sterne blitzten am schwarzen Himmel, und die StraÃenlampen leuchteten gelb. Harriet nahm Iones Hand und zog sie unter ihren Arm. Ione bewunderte Menschen, die zu solchen freundschaftlichen körperlichen Gesten fähig waren; sie selbst war zu schüchtern dazu.
»Deine Jacke ist skjonn. «
»Skjonn?«
»Schön.«
Harriet lachte. »Ich weiÃ. Jedesmal, wenn ich sie anziehe, denke ich, wie ist Harriet Dobbin nur zu einem Nerz gekommen?«
»Du siehst aus wie eine Schneeprinzessin.«
»Oh, danke.« Harriet drückte Iones Hand. »Avel wollte eigentlich einen Mantel, aber da hab ich gesagt: âºSchatz, zu solchem Luxus muà ich mich erst hocharbeiten.â¹Â«
Zwei Jungen mit Eishockeyschlägern und Schlittschuhen, die an zusammengebundenen Schnürsenkeln wie Sportjuwelen von ihren Hälsen baumelten, sprangen auf einen Schneewall, um den Frauen auf dem Bürgersteig Platz zu machen.
»Habt ihr gewonnen?« fragte Ione.
»Fünf zu eins«, antworteten die Jungen stolz.
Die Frauen gingen weiter.
»Wie alt bist du
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