Paul Bremer - 07 - Schrei nach Stille
es gab kaum einen Kollegen, der nicht beim Film arbeitete. Nur DeLange machte den Quatsch hauptberuflich. Und nur einmal hatte er zu fragen gewagt, was das mit den eigentlichen Aufgaben der Polizei zu tun habe. Karla hatte etwas von »Der Fernsehkrimi als kulturelles Scharnier zwischen den Bürgern und ihrer Polizei« gemurmelt und sagte schließlich, nachdem sie sein staunendes Gesicht gesehen hatte: »Damit die Filmfuzzis nicht alles falsch machen.« Das hatte er verstanden.
»So tief in Gedanken?« Hannah Lohberg stand vor ihm und sah zu ihm hoch. Klein, zart, durchscheinende Haut. Grüne Augen mit ein paar goldenen Flecken. Sie duzte ihn seit dem ersten Drehtag. »Das ist so Sitte, beim Zirkus und am Filmset«, hatte sie gesagt und ihn angelächelt. DeLange wurde es warm, aber vorsichtshalber nur ein bißchen.
»Du siehst aus wie …«
Wie ein überprotektiver alleinerziehender Vater. Ich weiß.
Sie legte ihre winzige Hand auf seinen Unterarm und dirigierte ihn sacht Richtung Kantine. »Erzähl schon«, sagte sie.
Daß ich bei jedem schuleschwänzenden Bengel gleich Angst um meine Töchter habe? Den Teufel werd ich tun. »Weißt du, daß ich hier jede Stufe persönlich kenne?«
Sie blieb stehen und machte große Augen. Ablenkungsmanöver gelungen. »Ach so«, hauchte sie. »Du leistest dir einen Anfall von Nostalgie.«
Nostalgie? Trauer. Er trauerte den Zeiten nach, als das alte Gemäuer noch nicht die heruntergekommene Bruchbude von heute war. Wahrscheinlich war die wilhelminische Architektur des 1914 eingeweihten Baus nie sonderlich anheimelnd gewesen, warum auch, er sollte ja Autorität ausstrahlen. Außerdem hatte die ganze Pracht mal gerade dreißig Jahre gehalten, dann demolierten Fliegerbomben den alten Kasten. Aber für ihn war es der Höhepunkt seiner Karriere gewesen, als er hierher nach Frankfurt versetzt wurde.
Und diese Treppe … Auch er hatte Spuren auf ihr hinterlassen. Hier war er hoch, als Florentine und Caroline geboren wurden. Hier war er runter, als Feli nach monatelangem Streit endlich auszog. Hier hatte er mit Kollegen gestanden und fast geheult, nach der Beerdigung von Werner und Thomas. Erschossen, vor einer Raststätte an der Autobahn, die Täter nie gefunden. Und hier war er unschlüssig stehengeblieben, als man ihn endlich wieder gesund geschrieben hatte, weil er sich nicht hochtraute zu den Kollegen und in sein altes Büro.
Blut, Schweiß und Tränen. Wörtlich zu nehmen: Der alte Kasten hatte im Unterschied zum neuen Präsidium eine Sauna gehabt. Ja, das Gebäude war alt, verbaut und verbraucht, aber es hatte Seele und Geschichte. Und deshalb fand er unpassend, wofür das Haus mittlerweile herhalten mußte.
Vor der »Kantine« blieben sie stehen. Man hatte improvisiert und Tische und Stühle in den großen Raum gestellt, vor der Tafel standen Kaffeeautomaten und Getränkekisten, tags gab es belegte Brote, zu Mittag etwas Warmes aus großen Töpfen, für die Vegetarier Salat.
»Das war mal ein Konferenzsaal.« DeLange räusperte sich. »Hier haben wir die SoKo Adrian gegründet. Du erinnerst dich an den kleinen Jungen?« Sie mußte sich erinnern. Wer tat das nicht? Ein Blondschopf mit braunen Augen, elf Jahre alt war das Kind, als es erst mißbraucht und dann erschlagen wurde. Fast so alt wie der Junge, der gesucht wurde.
»Ich weiß. Der Mörder hat ihm ein Stück aus der Wange gebissen«, sagte Hannah.
Sie war plötzlich ganz blaß um die Nase. Willst du ihr die Laune verderben, Alter?
»Was einem halt einfällt an so einem Ort«, sagte DeLange lahm. »Und jetzt ist das alles nur noch Filmkulisse.«
In der Kantine herrschte angeregtes Chaos. Er ließ Hannah den Vortritt, als sie sich in die Schlange vor dem Kaffeeautomaten einreihten. Eigentlich hatte er keinen Hunger.
Hannah drehte sich zu ihm um, die dunklen Augenbrauen zusammengezogen. »Und der Täter wurde nie gefunden?«
»Nein.« Aber wir kriegen ihn noch. Wir werden immer besser.
»Kommt das oft vor? Ich meine, daß so ein Fall nie aufgeklärt wird?«
»Immer seltener.« Und immer noch zu oft.
»Und – wenn es zu Ermittlungspannen kommt?«
Ups. Pannen haben wir nicht. Pannen kennen wir nicht. Die gibt es nur im Fernsehen.
»Irren ist menschlich«, hörte er sich lügen. »Aber es kommt glücklicherweise bei uns nicht allzuoft vor.« Nicht allzuoft. Höchstens ein paarmal täglich. Er reichte ihr Tasse und Untertasse.
Nur noch ein kleiner Tisch am Fenster war frei. An den großen Tischen saßen
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